Franziska Gschwend leitete Fachgremium gegen sexuelle Übergriffe im Bistum St.Gallen von 2014–2020.
«Mich beeindruckt, mit welcher Ernsthaftigkeit sich das Bistum mit dem Thema auseinandersetzt», sagt Franziska Gschwend. Die Juristin leitet seit drei Jahren das Fach- gremium gegen sexuelle Übergriffe im Bis- tum St.Gallen. Es sei oft ein grosser Schritt, bis sich ein Opfer an das Fachgremium wendet. Meist liegen die Fälle viele Jahre zurück. «Die Betroffenen, die mit uns Kontakt aufnehmen, haben den Miss- brauch oft jahrzehntelang mit sich rumgetragen», sagt Franziska Gschwend. Die Medienberichte über die Missbrauchsfälle hätten dazu beigetragen, dass das Thema enttabuisiert wurde. «Vielen Betroffenen ist bewusst geworden, dass sie nicht die einzigen sind. Sie wurden ermutigt, ihren Fall auch endlich zur Sprache zu bringen.» Franziska Gschwend möchte keine explizite Anzahl der Personen, die sich jedes Jahr beim Gremium melden, nennen: «Zahlen allein sagen nichts aus und erwecken schnell einen falschen Eindruck. Und gerade weil es stark von der medialen Berichterstattung abhängt, sind es in einem Jahr plötzlich viel mehr Fälle als in anderen Jahren. Nur so viel: Es sind vereinzelte.» Nach dem Erstgespräch klärt das Fachgremium ab, wie dem Opfer geholfen werden kann und welche Schritte sinnvoll sind. «In vielen Fällen sind die Täter bereits verstorben.»
Entschädigung oft zweitrangig
In den vergangenen Jahren hat sich die Schweizer Bischofskonferenz ( SBK ) intensiv mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle beschäftigt. 2016 richtete sie einen Fonds ein, aus dem Genugtuungsbeiträge an Opfer von verjährten sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld ausgerichtet werden können. «Für mich persönlich war das zunächst ein zwiespältiges Signal», gibt Franziska Gschwend zu, «unser Gremium erlebt, dass der finanzielle Aspekt für die Opfer oft gar nicht so wichtig ist. Entscheidender ist für sie, endlich gehört zu werden und mitteilen zu können, was sie erlebt haben.» Die Gespräche der Betroffenen mit den Vertretern des Fachgremiums werden protokolliert – allein das bezeichnen viele Betroffene als einen wichtigen Teil der Aufarbeitung. Es dürfe nicht passieren, dass mit dem Fonds die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen ausschliesslich auf eine finanzielle Ebene komme. Dem Fachgremium ist es weiterhin wichtig, dass mit den Opfern ein persönlicher Kontakt hergestellt werden kann. «Inzwischen sehe ich den Fonds aber als ein wichtiges Zeichen: Einerseits wird gegenüber den Opfern ein klares Signal gesetzt, dass ihr Leiden anerkannt wird. Andererseits bleibt das Thema da- mit im Gespräch und die Kirche zeigt, dass es ihr wirklich ernst ist.» Künftig kann das Fachgremium für Opfer eine finanzielle Genugtuung beantragen. Noch gebe es keine Erfahrungen, was der Fonds auslöst. Das Fachgremium des Bistums St.Gallen könne erst seit kurzem Anträge einreichen, weil die Kontaktdaten erst seit Anfang 2017 bekannt sind.
Rückbindung an Bistum notwendig
Franziska Gschwend, die als Juristin beim Bil- dungsdepartement des Kantons St.Gallen tätig ist, schätzt es, dass das Fachgremium interdis- ziplinär arbeitet und Fachpersonen aus ver- schiedenen Bereichen mitwirken. Mit Peter Lampart ist auch ein Mitglied der Bistumslei- tung im Gremium. – Ist damit nicht die Neut- ralität des Gremiums gefährdet? «Wir arbeiten im Auftrag des Bischofs, das lässt sich nicht von der Hand weisen», räumt Gschwend ein, «aber ich erlebe, dass alle Beteiligten sehr pro- fessionell arbeiten und die verschiedenen Rol- len auseinandergehalten werden. Wir sind an- gewiesen auf die Rückbindung an das Bistum, da es oft auch um kirchliche Fragen geht und letztlich der Bischof über konkrete Massnah- men zu entscheiden hat. Ich nehme von den Verantwortlichen ein ehrliches Interesse wahr, den Opfern zu helfen und geschehenes Leid aufzuarbeiten.» Hätte sie das Gefühl, nur eine «Alibi-Rolle» wahrnehmen zu können, hätte sie ihr Engagement schnell wieder beendet. Auch wenn sie mit viel Leid konfrontiert wer- de, sei es eine befriedigende Aufgabe: «Ich kann einen kleinen Beitrag zur Versöhnung leisten.» Seelsorger sensibilisieren Der Auftrag des Fachgremiums beschränkt sich nicht nur auf die Aufarbeitung von Geschehenem, sondern beinhaltet auch Sensibilisierung für Grenzverletzungen. So werden alle neuen Mitarbeitenden des Bistums bei der Einführung in den kirchlichen Dienst vom Fachgremium über dessen Arbeit informiert. Dieses Jahr wird zudem bei den Dekanatsweiterbildungen das neue Schutzkonzept (siehe Kasten) sowie die Arbeit des Fachgremiums vorgestellt.
Text: Stephan Sigg
Veröffentlicht: Mai 2017