Wie mit den Schreckensmeldungen aus der Ukraine umgehen? Was tun? Und wie beten? Der Kapuziner Niklaus Kuster aus dem Kloster Rapperswil SG über die Wirkung von kleinen Zeichen, Gebetshilfen und die Kraft der Gemeinschaft.
Kurz nach Kriegsbeginn postete Bruder Niklaus auf seinem Facebookprofil eine Meldung: Fotos von einer Wanderung und zu jedem Bild kurze Zeilen über seine Gefühle angesichts des Kriegs. Das letzte Bild lädt zum Gebet: «Betet, freie Schweizer und freie Europäerinnen!». «Es war mir wichtig, ein Zeichen zu setzen», sagt er beim Gespräch mit dem Pfarreiforum im Kapuzinerkloster Rapperswil. «Ich habe einen «Wüstentag» unterwegs verbracht. Das Wandern am Neuenburgersee in der spätwinterlichen Natur mit dem Wind, der vom Osten her das Wasser aufgewühlt hat, hat auch mich aufgewühlt. Es hat mir bewusst gemacht: Dieser Wind kommt von dort, wo jetzt Krieg herrscht. Er verbindet uns mit den Menschen in der Ukraine.» Kommentare zeigen, dass der Beitrag anderen Mut macht. «Mein Facebook-Post wirkt ähnlich wie die Antikriegsdemonstrationen: er stellt sich öffentlich gegen diese Invasion, protestiert gegen das Unrecht und verbindet dabei Menschen», hält Bruder Niklaus fest. Er sei gerade in diesen Tagen und mit Blick auf den zögerlichen Bundesrat «sehr dankbar dafür, dass wir in der Schweiz die Medien als vierte Gewalt im Staat. Es gibt viele Formen, zu zeigen: «Was in der Welt geschieht, bewegt mich – und ich bin nicht einverstanden mit dieser Gewalt.»

Anteilnahme ausdrücken
Der Krieg in der Ukraine löst bei vielen Entsetzen und Sorge aus – auch bei Bruder Niklaus und seiner Gemeinschaft in Rapperswil, wo er mit fünf Mitbrüdern und einer reformierten Pfarrerin lebt. «In unserer Gemeinschaft sind die Ereignisse präsent, in den Gebeten der Gemeinschaft, den persönlichen Gebeten, aber auch in den Gesprächen beim Essen.» Es entlaste ihn, Teil einer Gemeinschaft zu sein. «Ich bin nicht allein mit allem, was da draussen passiert. Man kann diese Last teilen. Und es war uns ein Anliegen, den Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Anteilnahme auszudrücken.» Seit Tagen brennt wie in vielen anderen Kirchen im Bistum St.Gallen auch in der Klosterkirche eine Kerze für die Menschen in der Ukraine. Ein Gebetszettel liegt auf zum Mitbeten und Mitnehmen.» Das Gebet hat Bruder Kletus Hutter dem Facebook-Beitrag von Bruder Niklaus entnommen.
Ich bete für die Regierenden in aller Welt,
dass sie weiterhin alle diplomatischen Wege nutzen.
Ich bete für die Kämpfenden auf beiden Seiten,
dass sie menschlich bleiben!
Ich bete für das Volk der Ukraine,
dass es standhaft bleibt und seine Würde nicht opfert!
Ich bete für alle Schutzlosen,
dass sie Tod und Verwundungen entgehen!
Ich bete für die Kriegstreiber,
dass sie zur Vernunft kommen!
Ich bete um Kraft für alle Trauernden,
die Angehörige oder ihr Zuhause verloren haben – und noch verlieren!
Und ich bete, dass die prophetischen Stimmen
von Papst Franziskus und Grossimam Ahmad al-Tayyeb von Abi Dhabi gehört werden:
Gott ist ein Gott des Friedens – Schöpfer aller Menschen!
Krieg zwischen Töchtern und Söhnen sind nicht nur ein menschliches Drama,
sondern auch ein Drama für den Vater aller.
Gebet von Bruder Niklaus Kuster
Hoffnung mittragen
Auch wenn die Meldungen und Bilder aus der Ukraine kaum auszuhalten seien, wäre es für Bruder Niklaus falsch, die Augen zu verschliessen oder sich zurückzuziehen: «Es ist kennzeichnend für die franziskanische Spiritualität, sich von den Ereignissen in der Welt bewegen zu lassen: Nicht die Augen vor der Realität verschliessen, selbst wenn sie einen erschüttert. Ich erinnere mich in diesen Tagen an einen Mitbruder: Er hat auch noch mit 100 Jahren täglich sehr aufmerksam alle Nachrichtensendungen am Fernsehen mitverfolgt. Bei positiven Meldungen hat er gebetet: «Gott sei Dank» und bei Katastrophenmeldungen: «Gott, schau hin.»» Wenn ihn persönlich eine Meldung zu sehr aufwühlt, versucht Bruder Niklaus diesen Gefühlen Platz zu geben: «Ich versuche, sie nicht zu unterdrücken oder wegzuschieben. Ich stelle sie in Gottes Licht, trage sie mit in die stillen Zeiten oder setze mich bei einem Spaziergang damit auseinander.»
Beten, fragt sich mancher angesichts der aktuellen Situation, bringt das wirklich was? «Für mich bringt es dieses «Gott, schau hin» meines Mitbruders pointiert zum Ausdruck: Gerade wenn ich das Gefühl habe, nichts ausrichten oder bewegen zu können, ist es umso wichtiger, mit mehr als unseren eigenen Kräften zu rechnen. Selbstverständlich braucht es entschlossene politische und wirtschaftliche Massnahmen, um wirkungsvoll auf einen Aggressor wie Wladimir Putin zu reagieren. Aber es braucht noch etwas Anderes: eine höhere Macht und unsere spirituelle Kraft.»
Mit Gesten beten
Aber was, wenn ich noch nicht im Gebet verwurzelt bin und gerade in diesen aufwühlenden Tagen Mühe habe, mich zu sammeln oder passende Worte zu finden? «Unterstützung können Gebetshilfen bieten: Es gibt zeitgemässe Gebete in Büchern und Internet, die einem beim Einstieg helfen», weiss Bruder Niklaus. Darin finde man Ideen, was und wie etwas im Gebet thematisiert werden könne. Nicht nur Worte zählen. Alle Sinne können helfen, das göttliche DU über, hinter und in dieser Welt zu spüren oder zu erahnen: bei einem durch die Natur etwa – so wie Bruder Niklaus in seinem «Wüstentag» an de Juraseen. «Manchmal reicht es aber auch, nur mit Gesten zu beten: sich zum Beispiel hinzustellen, sich getragen zu erfahren und mit freien Händen, die nach oben geöffnet sind.» Auch vorgegebene Gebete können einem helfen. Aktuell bietet sich zum Beispiel das «franziskanische Friedensgebet» an. Es wurde 1912 zum ersten Mal veröffentlicht und erlangte im Ersten Weltkrieg in vielen Ländern Verbreitung. «Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens», heisst es darin, «dass ich liebe, wo man hasst» und «dass ich Hoffnung bringe, wo Verzweiflung quält». «Heute weiss man, dass dieses Gebet nicht auf Franz von Assisi zurückgeht. Dennoch ist es tief franziskanisch geprägt», so Bruder Niklaus. Und es buchstabiert den Auftrag Jesu an seine Freunde durch: «Tragt Frieden in die Häuser und Städte»: Nicht in der Ohnmacht-Haltung verharren, sondern erkennen, dass jeder selber Konflikte und Gewalt im Kleinen überwinden kann.

Wille zum Frieden
Als Kapuziner orientiert sich Bruder Niklaus an Franz von Assisi. Der heilige Franziskus ist vor allem für Anliegen wie Schöpfungsverantwortung oder seine radikale Solidarität mit den Ärmsten bekannt. «Franziskus ist auch eine prophetische Gestalt für den Frieden», sagt Bruder Niklaus. In die Zeit von Bruder Franziskus fielen drei Kreuzzüge. Der Papst hatte mit einem Schreiben gezielt den Hass gegenüber Muslimen aufgepeitscht. 1219 stand der von einem Kardinal befehligte Fünfte Kreuzzug im Nildelta muslimischen Truppen gegenüber. «Franziskus liess sich nicht von den Hassparolen blenden und hegte keine Vorurteile gegen den angeblichen Feind. Er reiste nach Ägypten, um den Sultan – das politische und geistliche Oberhaupt der Muslime – zu treffen. Die erhoffte Frtiedensmission gelang zwar nicht. Aber die Begegnung wurde zum prophetischen Beispiel eines Dialogs, in dem Respekt und der Wille zum Frieden im Vordergrund stehen: statt auf Konfrontation konsequent auf den Dialog setzen.»
Wir sind Geschwister
Die christliche Spiritualität und alle Religionen miteinander können einen wichtigen Beitrag zum Frieden leisten, davon ist Bruder Niklaus auch angesichts der aktuellen Situation überzeugt. Ein Beispiel sind für ihn die interreligiösen Gebetstreffen von Assisi, zu denen sich alle grossen Religionen und Kirchen seit 1986 vier Mal versammelt haben und die an Franz von Assisi als Friedenspropheten erinnern. «Diese Gebetstreffen sind von der Grundüberzeugung geprägt: Wir alle sind Geschwister, wir sind alle Töchter und Söhne Gottes, wir alle haben eine menschliche Würde.» Gerade an dieser Grundüberzeugung hält sich Bruder Niklaus in dieser Zeit fest. «Kriege werden erst möglich, indem jemand anderen Menschen die Würde abspricht – man wertet andere zu Unmenschen, zu Ungeziefer ab, die es zu vernichten gilt.» Selbst wenn es einem momentan schwerfalle: Auch Kriegstreiber wie Putin seien Söhne Gottes, wenn auch fern von aller Vernunft und herzlos im Verhalten. «Ich kann auch einen Despoten in mein Gebet aufnehmen und Gottes Geistkraft anflehen, das Herz Putins anzurühren und ihn zur Vernunft zu bringen. Ein Krieg ist nicht nur ein Drama für uns, sondern auch ein Drama für Gott: denn es sind seine Söhne und Töchter, die übereinander herfallen.»

Zur Person:
Bruder Niklaus Kuster (59) ist in Eschenbach SG aufgewachsen. Er ist Dozent für Kirchengeschichte und Spiritualität an der Universität Luzern und an Hochschulen in Münster und Madrid. Im Mai erscheint sein neues Buch «Innere Tiefe – grenzenlose Weite», das er zusammen mit Nadia Rudolf von Rohr verfasst hat (Patmos-Verlag). «Es ist eine Einführung in die franziskanische Spiritualität», sagt Niklaus Kuster. Das Buch besteht aus Briefdialogen an prägende Persönlichkeiten der letzten acht Jahrhunderte. Jede Personen stehen für ein Charisma der franziskanischen Spiritualität. Dabei kommen Frauen und Männer vor, die in den unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen Innerlichkeit mit Engagement, Mystik mit Politik, Tradition mit Innovation, Individualität mit Gemeinschaft verbanden.
Text: Stephan Sigg
Fotos: Ana Kontoulis
02.03.2022