Was einen Ort zur Heimat macht

Die Fami­lie, Erin­ne­run­gen und die Gemein­schaft: Anläss­lich des 1. August hat das ­Pfar­rei­fo­rum am Sommer­fest des Pfar­rei­ra­tes Rorschach bei eini­gen Mitglie­dern nach­ge­fragt, was diesen Tag ausmacht. Was braucht es, damit man an einem Ort heimisch wird?

Itali­en, Portu­gal, Kroa­ti­en, ­Indi­en und die Schweiz: All diese Natio­nen sind im Pfar­rei­rat Rorschach vertre­ten. Wie kam es dazu, dass Sie sich auf diese Weise für die ­Gesell­schaft engagieren?

Sarah Soos­ai­pil­lai (49): Mein Grund ist meine Verbin­dung zu meiner Reli­gi­on. Ich stam­me aus Indi­en, bin aber katho­lisch. Damit bin ich Teil einer Minder­heit. Nur rund zwei Prozent der Inde­rin­nen und Inder gehö­ren in Indi­en dem Chris­ten­tum an. Dafür ist die katho­li­sche Gemein­schaft dort stark mitein­an­der verbun­den. An den Gottes­diens­ten sind die Kirchen immer voll. Als ich in die Schweiz kam, war für mich darum klar, dass ich mich auch hier gerne einbrin­gen woll­te. Zuerst enga­gier­te ich mich am Tag der Völker, an dem in der Pfar­rei Rorschach Menschen aus verschie­dens­ten Ländern gemein­sam Gottes­dienst feiern und anschlies­send zusam­men essen. 2015 wurde ich ange­fragt, ob ich mich im Pfar­rei­rat einbrin­gen wolle. Ich hatte zuerst Zwei­fel, ob meine Deutsch­kennt­nis­se ausrei­chen würden. Aber ich habe es dann einfach gewagt.

Armel­la Häne (75): Ich war acht Jahre lang als Kirchen­ver­wal­tungs­rä­tin tätig. Weil mir die Pfar­rei sehr viel bedeu­tet, ich mich gerne ­enga­gie­re, mich einbrin­ge und mitge­stal­te, liess ich mich anschlies­send gerne in den Pfar­rei­rat wählen.

Max Huwy­ler (57): Mir erging es wie euch beiden. Ich wurde vor drei Jahren vom Pasto­ral­team ange­spro­chen, ob ich nicht in den Pfar­rei­rat wolle. Nach kurzer Bedenk­zeit sagte ich zu. Meine Moti­va­ti­on für dieses Enga­ge­ment ist, dass man die Gele­gen­heit ergrei­fen soll­te, wenn man die Chan­ce bekommt, etwas mitzu­ge­stal­ten. Immer nur zu kriti­sie­ren wäre zu einfach, ausser­dem bewegt man damit nichts.

Carlos Simão (58): Ich kann mich anschlies­sen. Auch ich enga­gier­te mich am Tag der Völker als Vertre­tung der Portu­gie­sin­nen und Portu­gie­sen. Beim Apéro nach dem Gottes­dienst sprach mich der dama­li­ge Präsi­dent des Pfar­rei­ra­tes an. Er mein­te, da es so viele Portu­gie­sin­nen und Portu­gie­sen in Rorschach gibt, brau­che es auch jeman­den, der sie vertre­te. Das ist meine Moti­va­ti­on. Ich bin seit 2018 im Pfarreirat.

Was braucht es, damit ein Ort zur Heimat wird?

Carlos Simão: Heute ist Rorscha­cher­berg meine Heimat. Ich lebe seit 42 Jahren in der Schweiz. Mit 17 Jahren kam ich als Saison­nier hier­her, zuerst nach Gold­ach. Es sind die vielen Jahre, die dazu geführt haben, dass ich mitt­ler­wei­le mehr Schwei­zer als Portu­gie­se bin. Mein Leben findet hier statt. Einmal im Jahr gehe ich zurück nach Portu­gal. Das sind meine drei Wochen Feri­en, die ich mir gönne.

Sarah Soos­ai­pil­lai: Auch ich lebe schon seit 20 Jahren hier. Aber noch immer fühlt sich Indi­en wie meine Heimat an. Lang­sam muss ich wohl aber akzep­tie­ren, dass sich mein Leben für immer hier abspie­len wird. Meine Kinder sind hier verwur­zelt und werden wohl nicht nach Indi­en zurück­keh­ren. Sie sind 18 und 20 Jahre alt. Soll­te ich eines Tages Enkel­kin­der haben, so möch­te ich in deren Nähe sein. Aus meiner Fami­lie in Indi­en bin ich die einzi­ge, die hier lebt. Ich folg­te damals meinem Mann von Sri Lanka in die Schweiz, der wegen des Bürger­kriegs geflüch­tet war. Da meine gesam­te Verwandt­schaft in Indi­en lebt, ist mein Herz immer dort.

Max Huwy­ler: Ich habe im Duden nach­ge­schla­gen: Heimat ist per Defi­ni­ti­on jener Landes­teil, in dem man gebo­ren ist oder in dem man sich zuhau­se fühlt. Es braucht also eine enge Gefühls­ver­bun­den­heit, um sich irgend­wo heimisch zu fühlen. Ich bin stolz, Schwei­zer zu sein und dank­bar, in einem siche­ren Land zu leben. Das ist nicht selbst­ver­ständ­lich. Am Boden­see lebe ich seit 1989 und in Rorschach seit 2000. In meiner Kind­heit zog ich mit meiner Fami­lie in die Ostschweiz. Zuerst für ein Jahr nach Ebnat-Kappel und danach nach St. Gallen.

Armel­la Häne: Viel­leicht war es Zufall oder eher eine gute Fügung, dass ich nach Rorschach kam. Mein Mann war damals als Pasto­ral­as­sis­tent im Seel­sor­ge­team tätig. Rorschach ist mir in den vielen Jahren wirk­lich ans Herz gewach­sen und zur Heimat gewor­den: Durch seine wunder­ba­re Lage am See, durch die vielen Menschen, mit denen ich verbun­den bin, durch eine Reihe von Aufga­ben, die ich in Gesell­schaft und Kirche wahr­neh­men durf­te und immer noch wahrnehme.

Feiern Sie diese Verbun­den­heit beispiels­wei­se am 1. August?

Carlos Simão: Den 1. August habe ich nur als Saison­nier in meinen ersten Jahren hier miter­lebt. Seit­her bin ich immer zu dieser Zeit in Portu­gal in den Ferien.

Sarah Soos­ai­pil­lai: Wir sind eben­falls nicht immer hier am 1. August. Jedes vier­te Jahr reisen wir im Sommer nach Indi­en. Als meine Kinder klein waren, haben wir uns jeweils das Feuer­werk am Boden­see ange­schaut. In Indi­en ist der wich­tigs­te Tag der 15. August. Da feiern wir unse­re Unab­hän­gig­keit von Gross­bri­tan­ni­en. Verglei­chen kann man die beiden Feier­ta­ge aber nicht direkt. Anders als Indi­en stand die Schweiz nie unter einer frem­den Herrschaft.

Carlos Simão: In Portu­gal ist am 10. Juni Natio­nal­fei­er­tag. Die Fest­lich­kei­ten halten sich da aber in Gren­zen. Viel mehr gefei­ert wird am Fest des Heili­gen Johan­nes am 24. Juni. Da gibt es über­all Feuer­werk und Musik und das Fest erin­nert mich sehr an den 1. August hier.

Sarah Soos­ai­pil­lai: Inter­es­sant, dass du das sagst. Am Unab­hän­gig­keits­tag in Indi­en tragen alle die Flag­ge auf ihrer Klei­dung, vor allem die Schü­le­rin­nen und Schü­ler. An diesem Tag zeigen wir, wie stolz wir auf unse­re Natio­na­li­tät sind. Dieser Patrio­tis­mus wird ab Kind­heit geför­dert. Es gibt etwa Para­den und Märsche an den Schu­len. Ich würde sagen, der 1. August steht für unge­zwun­ge­nes Feiern und beisam­men sein, der Unab­hän­gig­keits­tag in Indi­en für den Patriotismus.

Armel­la Häne: Der Natio­nal­fei­er­tag weckt in mir vor allem ein Gefühl der Dank­bar­keit, dass ich in einem Land leben darf, das mir so viele Möglich­kei­ten bietet, mein Leben frei, selbst­be­stimmt und sinn­voll zu gestal­ten. Aus dieser Dank­bar­keit wächst für mich auch die Verpflich­tung, unse­rem Land Sorge zu tragen, damit auch die nächs­ten Gene­ra­tio­nen diese Möglich­kei­ten weiter zur Verfü­gung haben.

Max Huwy­ler: Mich zieht es meist an die Bundes­fei­er auf der Arionwie­se. Die Feier dort steht für mich für Kommu­ni­ka­ti­on, zwischen­mensch­li­che Bezie­hung und das Zusam­men­sein mit Fami­lie, Freun­den und Bekann­ten. Feuer­werk und Deko­ra­ti­on gehö­ren natür­lich auch dazu. Meine beiden Balko­ne sind an diesem spezi­el­len Geburts­tags­fest mit Schwei­zer­fähn­li geschmückt – meist blei­ben diese bis zu meinem eige­nen Geburts­tag am 5. August hängen.

Armel­la Häne: Max, mit den Fahnen auf deinen Balko­nen, die bis zu deinem Geburts­tag dort blei­ben, drückst du deine Iden­ti­fi­ka­ti­on aus und zeigst, wofür dein Herz steht?

Max Huwy­ler: Ja, auf unse­re Heimat bin ich stolz. Ich war zwar nicht dabei, als die Schwei­zer Eidge­nos­sen­schaft 1291 auf der Rütli-Wiese gegrün­det wurde. Aber ich fühle mich mit diesem ­Moment verbunden.

Im Pfar­rei­rat Rorschach ­kommen verschie­dens­te kultu­rel­le ­Hinter­grün­de zusam­men. Wie berei­chert das dessen Arbeit?

Max Huwy­ler: Für mich ist das gar nicht beson­ders bemer­kens­wert. Mit Menschen unter­schied­li­cher Natio­nen zusam­men­zu­ar­bei­ten soll­te längst Alltag sein. Im Pfar­rei­rat wirken Perso­nen von verschie­de­nen Teilen der Erde mit. Alle brin­gen ihre Themen ein, etwa aus der Missio­ne Catto­li­ca Italia­na oder der Missi­on der Portu­gie­sin­nen und Portu­gie­sen. Diese Viel­falt zeich­net unse­re Arbeit aus.

Armel­la Häne: Ich liebe den «Tag der Völker», den wir jeweils im Novem­ber mit einem stim­mungs­vol­len Gottes­dienst und einem anschlies­sen­den Fest feiern. An diesem Tag wird für mich beson­ders sicht­bar und erleb­bar, welchen Reich­tum die kultu­rel­le Viel­falt in unse­rer Pfar­rei und Stadt darstellt. Mir sind die Möglich­kei­ten und Chan­cen dieser Viel­falt immer näher gewe­sen als die Proble­me und Heraus­for­de­run­gen, die damit natür­lich auch verbun­den sind.

Sarah Soos­ai­pil­lai: Ich möch­te ergän­zen, dass ich mich hier akzep­tiert fühle und viel Offen­heit spüre. Ich bin dank­bar, in Rorschach und im Pfar­rei­rat zu sein und auf diese Weise das Pfar­rei­le­ben mitge­stal­ten zu können.

Carlos Simão: Mir geht es genau­so, ich habe immer das Gefühl, dass unse­re Meinung gewünscht oder gefragt ist. Seitens der Portu­gie­sen gibt es in Rorschach die Fatima-Prozession, zu der alle einge­la­den sind. Mitwir­ken, einbe­zie­hen, sich auf neue Sachen einlas­sen: Das zeich­net Rorschach und spezi­ell auch die Arbeit im Pfar­rei­rat aus.

Text: Nina Rudnicki

Bilder: Benja­min Manser

Veröf­fent­li­chung: 25. Juli 2022

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