Da kommst du nichts Böses ahnend am Abend nach Hause, sperrst die Tür auf, ziehst die Schuhe aus, tappst ins Wohnzimmer und … zack … da springen deine besten Freundinnen und Freunde hinter dem Sofa hervor: «Herzlichen Glückwunsch!» Torte, Sekt, Geschenk – sie haben an alles gedacht. Der Party steht nichts mehr im Wege. Gibt es etwas Schöneres als überrascht zu werden?
Ich habe es nicht so mit Überraschungen. Definitiv. Ich will keine «Fahrt ins Blaue», kein «Überraschungsprogramm» und auch mit Überraschungsbesuchen tue ich mich eher schwer – nicht weil ich mich nicht über den Besuch dieser Menschen freuen würde. Im Gegenteil. Aber wenn ich Besuch erwarte, ist es doch schön, sich darauf vorbereiten zu können. Mich seelisch darauf einstimmen, «parat» sein. Selbstverständlich zappe ich bei Sendungen wie «Happy Day» schnell weiter. Wenn ich zum Geburtstag einen «Überraschungs-Gutschein» bekomme, sehe ich dieser Überraschung mit gemischten Gefühlen entgegen. Ich will nicht überrascht werden. Logisch weiss ich: Es wird schön. Das ist nicht das Problem. Aber wenn mich etwas Schönes erwartet, warum soll ich mich auf dieses Schöne nicht freuen dürfen? Das würde mir viel Kopfzerbrechen ersparen: Was genau erwartet mich? Was muss ich mitnehmen? Wie anziehen? Ist es dort kalt, warm? Muss ich vorher noch etwas essen? Wie lange geht das ungefähr? Stark ist mir Folgendes in Erinnerung geblieben: Da wurde eine Freundin überrascht – sie war so perplex, dass sie sich gar nicht freuen konnte. Wie versteinert stand sie da und betrachtete das Geschenk, das Teil der Überraschung war, ziemlich angestrengt. Erst einen Tag später meldete sie sich per Kurznachricht: Sie habe sich eigentlich schon total gefreut, aber sie sei so überrumpelt gewesen, dass die unbeschwerte Freude im Moment nicht möglich war. Also etwa so wie bei den Überraschten in TV-Shows.
Überwältigt oder schockiert
Manche Menschen können gut mit Überraschungen umgehen, manche überhaupt nicht. Ich habe mir schon oft in meinem privaten und beruflichen Umfeld emotionale Schilderungen von überwältigenden Überraschungen anhören dürfen: Eine Überraschungsparty am Geburtstag? Für manche könnte es nichts Schöneres geben. Highlights, an die man noch lange zurückdenkt. Darüber las ich auch schon in Psychologie-Zeitschriften. Es liegt nicht daran, dass mich mein Umfeld schon mit so vielen peinlichen, nervigen oder völlig deplatzierten Überraschungen konfrontiert hätte, dass ich eine solche Abneigung gegenüber Überraschungen habe. Ob man Überraschungen mag oder nicht, ist Teil des Charakters. Das sagen zumindest diverse Studien.
Mit Fingerspitzengefühl
Ich bewundere Menschen, die lange im Voraus und sehr aufwändig Überraschungen für eine andere Person aushecken, andere einweihen, alles planen und organisieren. Auch wenn sie vielleicht nicht auf so einen Überraschungs-Phobiker wie mich treffen, sind Überraschungen doch immer mit sehr viel Fingerspitzengefühl verbunden. Sind sie sich bewusst, auf welches Wagnis sie sich einlassen? Das braucht viel Empathie: Wo liegt die Grenze beim anderen? Was geht nicht? Freut sich die Person wirklich darüber? Ich sehe durchaus auch das Positive am Überraschen: Man beschäftigt sich intensiv mit jemandem.
Auf Überraschendes vertrauen
Was sagt die christliche Spiritualität zu Überraschungen? Gott ist ein Gott der Überraschung. Im Alten Testament gibt es zum Beispiel Abraham und Sara. Die beiden waren hochbetagt, als Sara nach Jahrzehnten des Warten doch noch schwanger wurde. Auch Jesus sorgt immer wieder für Überraschungen, wie an vielen Stellen im Neuen Testament berichtet wird: Er machte oft nicht das, was andere erwartet hätten. Zudem kann auch Ostern, die Auferstehung von Jesus Christus, als ein grosses Überraschungsereignis gedeutet werden. Sind all diese Beispiele Mutmacher für mehr Offenheit für Überraschungen? Für mehr Vertrauen, sich einfach einmal auf Überraschungen einzulassen? Offen zu sein für die Überraschungen Gottes in meinem Leben? Ich versuche, es mir für 2023 vorzunehmen.
Wer es wagt
Selbstverständlich habe ich mit kleinen Überraschungen wie zum Beispiel dem Inhalt des Adventskalenders kein Problem. Auch mein privates Umfeld kennt mich gut. Kaum einer würde es wagen, mich zu überraschen. Und wenn, dann wohl gut überlegt, welche Überraschung mich tatsächlich freuen würde. Denn ehrlicherweise muss ich zugegeben, wenn ich meine Phobie vor Überraschungen zur Seite schiebe und wenn die Überraschung wirklich zu hundert Prozent passt, ist die Freude doch riesig. Und nicht vergessen gehen sollte, dass auch kleine Überraschungen Freude bereiten. Manchmal tut es auch einfach ein Blumenstrauss.
Text: Stephan Sigg
Bilder: istockphoto.com
Veröffentlichung: 30.12.2022