Wieso uns die ganzheitliche Medizin des Mittelalters bis heute fasziniert und was wir aus Legenden der damaligen Zeit erfahren, sagt Stiftsbibliothekar Cornel Dora im Interview.
Klostermedizin und Naturheilkunde sind im Trend. Wie hängen aber Christentum und Medizin zusammen?
Cornel Dora: Wurde früher jemand krank, war es lange Zeit Aufgabe der Familie, diese Person zu pflegen. Erste Vorläufer von Spitälern gab es bei den Römern, wobei es dort vor allem um die Versorgung der Wunden der Soldaten ging. Als das Christentum aufkam, änderte sich das. Die Erzählung vom Barmherzigen Samariter im Neuen Testament beispielsweise ruft zur Nächstenliebe auf und erinnert daran, dass alle für ihre Mitmenschen verantwortlich sind. Es ist also Teil des christlichen Fundamentes, für Kranke und Arme da zu sein.

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Welche Rolle spielte das Kloster St. Gallen?
Cornel Dora: Das Kloster St. Gallen hatte ein grosses Einflussgebiet sowie den medizinischen Auftrag, für die Armen zu sorgen. Dabei müssen wir wissen, dass wer damals krank war mit grosser Wahrscheinlichkeit früher oder später auch arm wurde. Auf dem St. Galler Klosterplan von 825 waren eine Armenherberge, zwei Häuser für Aderlass und Baden, ein Ärztehaus für Operationen sowie ein Heilkräutergarten vorgesehen. Die Menschen im Umfeld des Klosters fanden hier auch Fachpersonal. Im 10. Jahrhundert war Notker, der Arzt aus St. Gallen, weit herum bekannt – er wirkte auch am Hof Ottos des Grossen. Zu Notker dem Arzt gibt es dazu zahlreiche Überlieferungen in der Stiftsbibliothek wie etwa jene des Herzogs von Bayern, der Notker testen wollte und ihm den Urin seiner gesunden Zofe statt seines eigenen gab. Nach der Untersuchung verkündete Notker, es sei ein Wunder geschehen, der Herzog erwarte ein Kind.
Das klingt eher nach einer Legende.
Cornel Dora: Ja, das mag sein. Aber, ob Legende oder nicht, belegen solche Überlieferungen, dass damals schon bekannt war, dass man im Urin eine Schwangerschaft ablesen konnte.
Welche weiteren medizinischen Handschriften sind in der Stiftsbibliothek erhalten?
Cornel Dora: Wir haben Überlieferungen von antiken und frühmittelalterlichen Rezept- und Arzneibüchern. Dazu gehört etwa das Liber Medicinalis, ein medizinisches Handbuch des römischen Gelehrten Quintus Serenus Sammonicus. Die Werke aus dieser Zeit zeigen auf, wie die Medizin bis ins Frühmittelalter mit Magie durchdrungen war. Gemäss dem Liber Medicinalis galt etwa das Wort Abrakadabra als Mittel gegen Malaria. Man schrieb das Wort auf eine Karte und wiederholte es immer wieder, wobei man jedes Mal einen weiteren Buchstaben wegliess. So wie das Wort sollte auch die Krankheit verschwinden.
Im Juni wird in der Stiftsbibliothek die Vereinigung für europäische traditionelle Medizin (TEM) gegründet. Wieso fasziniert uns traditionelle Medizin wie Klostermedizin bis heute?
Cornel Dora: Die heutige moderne Medizin ist wirkungsorientiert. Es gibt einen Wirkstoff, der die jeweilige Krankheit ganz gezielt bekämpft, möglichst ohne Nebenwirkungen. Viele Krankheiten sind aber komplexer und komplizierter. Im Mittelalter war die Medizin zwar weniger wirkungsvoll, sie schaute aber gemäss der damals verbreiteten 4‑Säfte-Lehre immer ganzheitlich auf den Menschen. Die Theorie ging davon aus, dass die Gesundheit des Menschen davon abhing, ob die vier Säfte Blut, Schleim (Phlegma), gelbe Galle (Cholera) und schwarze Galle (Melancholie) im Gleichgewicht waren. Basierend darauf bekamen die Erkrankten dann keinen einzelnen Wirkstoff, sondern einen Medikamentencocktail, welcher der oder dem Kranken insgesamt helfen sollte.
Sie sagen also, dass der ganzheitliche Ansatz heute zu kurz kommt?
Cornel Dora: Ich denke, dass der ganzheitliche Ansatz für viele Menschen heute zu kurz kommt und die traditionelle Medizin diesbezüglich positiv etwas beitragen kann. Es geht nicht darum, eine Ideologie zu pflegen, sondern das Potenzial dieses alten Wissens ergänzend zur sehr leistungsfähigen modernen Medizin zu nutzen. Dank unserer historischen Sammlung passen die Stiftsbibliothek und die Europäische Vereinigung für TEM gut zusammen.
Text: Nina Rudnicki
Bilder: Cornel Dora: Foto Marlies Thurnheer, Leader; Putte: Urs Baumann, Stiftsbibliothek St. Gallen
Veröffentlichung: 22. Mai 2023