«Es braucht mehr Menschen, die Fragen stellen»

Dialog mit Chris­ten und Musli­men? Das wäre für den St. Galler Rabbi­ner Shlo­mo Tikoch­in­ski in der Kind­heit undenk­bar gewe­sen: Er wuchs auf in einer ultra­or­tho­do­xen Fami­lie in Isra­el, doch im Studi­um beschäf­tig­te er sich mit dem Chris­ten­tum und dem Islam. Seit einem Jahr ist er Rabbi­ner der Jüdi­schen Gemein­de St. Gallen.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski und Roland Rich­ter, ehema­li­ger Präsi­dent der Jüdi­schen Gemein­de, begrüs­sen herz­lich und neugie­rig, wir tref­fen uns im hellen Saal der Jüdi­schen Gemein­de im 1. Stock neben der Synago­ge am Roten Platz direkt neben der Raiff­ei­sen­bank. Kaum hat die Foto­gra­fin ihr Equip­ment aufge­baut, ist man mitten im Gespräch. Der Rabbi­ner spricht flies­send Deutsch, lässt aber immer wieder hebräi­sche und engli­sche Wörter einflies­sen – die er jeweils flink mit der Über­set­zungs­app auf seinem ­Handy übersetzt.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski, Sie ­besu­chen ab und zu inko­gni­to Gottes­diens­te der katho­li­schen oder refor­mier­ten ­Kirche. Warum?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Weil ich ein sehr neugie­ri­ger Mensch bin. Mich inter­es­siert es, wie die Gläu­bi­gen der ande­ren Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ihren Glau­ben feiern. Nur, inko­gni­to ist inzwi­schen kaum mehr möglich: In den vergan­ge­nen Mona­ten durf­te ich bereits an vielen inter­re­li­giö­sen Anläs­sen oder Anläs­sen der Stadt teil­neh­men und deshalb kenne ich inzwi­schen viele Pfar­re­rin­nen und Pfar­rer persönlich.

Wie leicht ist Ihnen das ­Ankom­men in St. Gallen gefallen?

Shlo­mo Tikochinski: Sowohl die Begeg­nun­gen mit der Jüdi­schen Gemein­de, aber auch mit allen ande­ren Menschen in der Stadt waren von Anfang von Herz­lich­keit und Offen­heit geprägt. Vorher war ich Rabbi­ner in Dres­den, hier ist es weni­ger anonym, alle sind viel freund­li­cher. Die Jüdi­sche Gemein­de mit 120 Mitglie­dern ist klein, aber wir haben ein akti­ves Glaubens- und Gemein­de­le­ben mit vielen Anlässen.

Roland Rich­ter: Für uns ist Rabbi­ner Shlo­mo ein Geschenk. Wir sind zwar eine klei­ne Gemein­de, aber viele sind offen für Expe­ri­men­te. Erfreu­li­cher­wei­se konn­ten wir unse­ren Vorstand verjün­gen: Eine jünge­re Gene­ra­ti­on ist dabei, die Verant­wor­tung für die Gemein­de zu übernehmen.

Wie wich­tig ist der Inter­re­li­giö­se Dialog für Sie? Was tun Sie?

Shlo­mo Tikochinski: Inter­re­li­giö­ser Dialog beginnt für mich im Alltag, bei ganz alltäg­li­chen Begeg­nun­gen. Wenn zum Beispiel eine Zahn­ärz­tin, die in der Nähe unse­rer Synago­ge arbei­tet, mich plötz­lich auf der Stras­se fragt: Darf ich mal die Synago­ge anschau­en? Wir bieten aber auch zahl­rei­che Führun­gen für Schul­klas­sen an und ich nehme an Gesprächs­run­den teil. Es gibt fast jede Woche einen Termin.

Wie offen ist die Ostschweiz gegen­über ande­ren Religionen?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich nehme eine Offen­heit von den Vertre­te­rin­nen und Vertre­tern der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten wahr – das ist in Isra­el und selbst in Deutsch­land anders. Eindrück­li­che Beispie­le sind für mich der inter­re­li­giö­se Gottes­dienst am 1. August oder das gemein­sa­me Feiern am Bettag. Trotz­dem darf man etwas Zentra­les nicht verges­sen: Ob der inter­re­li­giö­se Dialog gelingt und sich Menschen verschie­de­ner Reli­gio­nen begeg­nen, ist nicht von solch beson­de­ren Veran­stal­tun­gen abhän­gig. Natür­lich braucht es den Austausch und gemein­sa­me Aktio­nen der offi­zi­el­len Vertre­ter der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, Insti­tu­tio­nen wie das «Haus der Reli­gio­nen» in Bern oder das «House of One» in Berlin sind wich­tig. Aber inter­re­li­giö­ser Dialog, der sich auf die Religions-Profis beschränkt, ist keine beson­de­re Leis­tung. Es geht darum, dass alle Gläu­bi­gen Teil davon sind.

Die St.Galler Synago­ge ist mitten in der Stadt zu finden, am Roten Platz.

Wie stel­len Sie sich das ­konkret vor?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich wünsche mir, dass man sich voller Neugier begeg­net und keine Angst hat, dem ande­ren Fragen zu stel­len. Deshalb ist es für mich viel bemer­kens­wer­ter, wenn mir jemand mitten im Alltag voller Offen­heit und Neugier begeg­net, Fragen stellt oder seine eige­nen Vorur­tei­le hinter­fragt. Es braucht mehr Menschen, die Fragen stel­len. Egal zu welcher Reli­gi­on ich gehö­re: Vorur­tei­le haben wir alle. Wir hören heute oft die offi­zi­el­len Vertre­ter der Reli­gio­nen über ihren Glau­ben spre­chen. Es braucht genau­so die ganz norma­len Menschen, die von ihrem eige­nen Glau­ben erzäh­len. Damit würde auch sicht­bar: Den Chris­ten, den Musli­men, den Juden gibt es nicht … Auch inner­halb jeder Reli­gi­ons­ge­mein­schaft gibt es so viele unter­schied­li­che Prägun­gen. Ande­ren vom Glau­ben erzäh­len, das ist sogar ein fester Teil des jüdi­schen Glau­bens: Es ist ein Wunsch Gottes – wir nennen es Kidusch Haschem: Gott gefällt es.

Herr Rich­ter, Sie sind schon viele Jahre Teil der Jüdi­schen Gemein­de in St. Gallen, wie ­erle­ben Sie das Mitein­an­der der Religionen?

Roland Rich­ter: Die Jüdi­sche Gemein­de spürt seit vielen Jahr­zehn­ten eine Begeg­nung auf Augen­hö­he. Ich erin­ne­re mich an ein Beispiel in den 1990er-Jahren: Damals grün­de­ten die Landes­kir­chen die Offe­ne Kirche St. Gallen. Der refor­mier­te Pfar­rer Chris­toph Sigrist, einer der Initi­an­ten dieses Projek­tes, frag­te mich an, ob ich im Vorstand mitwir­ken möch­te. Die öffentlich-rechtliche Aner­ken­nung 1993 durch den St. Galler Kantons­rat war für uns ein wich­ti­ger Schritt. Bis dahin waren wir als Verein orga­ni­siert, mit der Aner­ken­nung wurden wir den Landes­kir­chen gleich­ge­stellt. Das trug dazu bei, dass uns die Kirchen und der Staat auf Augen­hö­he begeg­nen. Heute profi­tie­ren wir sehr vom Schul­fach ERG. Viele Klas­sen behan­deln da die Welt­re­li­gio­nen und lernen das Juden­tum kennen.

Tun die Ostschwei­zer Schu­len genug für die Bildung in Sachen Religionen?

Shlo­mo Tikochinski: Die Nach­fra­ge nach Führun­gen in unse­rer Synago­ge ist gross. Viele Schul­klas­sen, die uns besu­chen, haben sich in einer «Woche der Reli­gio­nen» oder einem «Monat der Reli­gio­nen» mit dem Juden­tum beschäf­tigt. Ich spüre von den Kindern und Jugend­li­chen oft eine gros­se Neugier. Es werden viele Fragen gestellt.

Roland Rich­ter: Auch die ida-Woche jetzt im Septem­ber ist eine gute Platt­form. Das Wissen über die Reli­gio­nen ist eine wich­ti­ge Grund­la­ge für den inter­re­li­giö­sen Austausch: Nur wer den ande­ren ein biss­chen kennt, kann Fragen stel­len, die in die Tiefe gehen. Wenn mir der ande­re fremd ist und ich unsi­cher bin, was tabu ist oder was den ande­ren verletzt, dann bleibt es bei ober­fläch­li­chen Fragen. Wenn ich dem ande­ren begeg­nen möch­te, muss ich bereit sein, mich mit ihm zu beschäftigen.

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Heute ist es so einfach, sich über die Reli­gio­nen zu infor­mie­ren: Wenn ich heute etwas nicht weiss, kann ich ja googeln oder auf Wiki­pe­dia nachlesen.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski, haben Sie noch Kontakt zu Ihren Geschwistern?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich habe vor Kurzem einen meiner Brüder in Isra­el getrof­fen, er ist bis heute Teil der ultra­or­tho­do­xen Gemein­schaft. Als ich ihm erzählt habe, wie ich in St. Gallen mit Vertre­te­rin­nen und Vertre­tern der ande­ren Reli­gio­nen in Kontakt stehe und es auch gemein­sa­me Anläs­se gibt, hat er nur perplex gefragt: Warum tust du das? Für mich ist der inter­re­li­giö­se Dialog eine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Wir glau­ben ja alle an den glei­chen Gott. Viel­leicht lässt sich das mit einem Chor verglei­chen: Es gibt verschie­de­ne Stim­men, aber Gott braucht alle Stim­men, den alle zusam­men machen einen Chor aus.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski ist seit einem Jahr Rabbi­ner der Jüdi­schen Gemein­de St.Gallen.

Shlo­mo Tikochinski

Der promo­vier­te Histo­ri­ker Shlo­mo Tikoch­in­ski, gebo­ren 1966 in Jeru­sa­lem als zweit­äl­tes­tes Kind von elf Geschwis­tern, studier­te Geschich­te, Philo­so­phie und Theo­lo­gie – und dabei auch das Chris­ten­tum und den Islam. Er war Rabbi­ner in Jeru­sa­lem und von 2020 bis 2022 in Dres­den. Er lehr­te und forsch­te in verschie­de­nen akade­mi­schen Posi­tio­nen und hat mehre­re Bücher veröf­fent­licht. Neben seiner Tätig­keit in St. Gallen hat er weiter­hin einen Lehr­auf­trag in Jeru­sa­lem. Er hat vier Kinder und ist inzwi­schen vier­fa­cher Grossvater.

Roland Rich­ter

Roland Rich­ter wurde 1944 in eine jüdi­sche Fami­lie in St. Gallen hinein­ge­bo­ren. Nach dem Medi­zin­stu­di­um und der Ausbil­dung zum Fach­arzt für Geburts­hil­fe und Frau­en­heil­kun­de kam er 1985 zurück nach St. Gallen und grün­de­te seine eige­ne ärzt­li­che Praxis. 1987 – 2009 war er im Vorstand der Jüdi­schen Gemein­de St. Gallen, ab 1994 als Präsident.

Eine kanto­na­le Woche für den inter­re­li­giö­sen Dialog

Die «Inter­re­li­giö­se Dialog- und Akti­ons­wo­che ida» findet alle zwei Jahre statt, dieses Jahr vom 11. bis 17. Septem­ber. Einer der Höhe­punk­te ist die gemein­sa­me Bettags­fei­er auf dem Klos­ter­platz St. Gallen (Sonn­tag, 17. Septem­ber, 15.00 Uhr). Es laden ein: die christ­li­chen Kirchen sowie verschie­de­ne Religions- und Glau­bens­ge­mein­schaf­ten der Stadt und Regi­on St. Gallen. Die rumänisch-orthodoxe Pfarr­ge­mein­de wird bei dieser Feier die «St. Galler Erklä­rung» unter­zeich­nen. Die «St. Galler Erklä­rung für das Zusam­men­le­ben der Reli­gio­nen und den inter­re­li­giö­sen Dialog» ist das Herz­stück der ida. Seit 2005 haben zahl­rei­che Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten und auch Einzel­per­so­nen die Erklä­rung unter­schrie­ben: www.pfarreiforum.ch/stgallererklärung. In der ida-Woche gibt es zahl­rei­che Veran­stal­tun­gen im ganzen Kanton St. Gallen.

Text: Stephan Sigg

Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 23.08.2023

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