«Anerkennung des Leidens»

A.* wurde Opfer von sexu­el­len Übergriffen im kirch­li­chen Umfeld. Sie hat dem Pfar­rei­fo­rum einen Text zur Verfü­gung gestellt, in dem sie die Verar­bei­tung und ihre Erfah­run­gen mit dem Fach­gre­mi­um des Bistums St.Gallen gegen sexu­el­le Übergriffe reflektiert.


Meine letz­ten 20 Jahre glei­chen einem stei­ni­gen Weg mit einem stän­di­gen Auf und Ab, mit Gesprä­chen, Thera­pien und Medi­ka­men­ten. Im Nach­hin­ein weiss ich, dass jeder Schritt nötig war, um die Kraft und den Mut zu bekom­men, mich in die «Höhle des Löwen» zu wagen: an das Fach­gre­mi­um «Sexu­el­le Über­gri e im kirch­li­chen Umfeld» des Bistums St.Gallen. Hier melde­te ich den Miss­brauch. Ich möch­te jedoch ausdrück­lich beto­nen: Ich verste­he jedes Opfer, das der Kirche den Rücken zukehrt und von ihr nichts mehr wissen will. Mein Weg ist nur einer von vielen. Welchen Weg ein Opfer auch geht, es ist der rich­ti­ge Weg – denn es ist sein ganz persön­li­cher Weg! Als schwer eingestuft.

Das Fach­gre­mi­um beglei­tet mich seit Juli 2018. Es war für mich da, als ich erfuhr, dass «mein» Pfar­rer an einem ande­ren Ort verur­teilt worden war, weil er «den Mädchen im Unter­richt zu nahe gekom­men ist». Er erhielt vier Mona­te Gefäng­nis bedingt, muss­te diese Stra­fe also nicht absit­zen, kam dann in unser Dorf, wo er sich weiter­hin an Mädchen verging. Auch an mir! Der Bescheid der Genug­tu­ungs­kom­mis­si­on, dass mein «Fall» als schwer einge­stuft wurde und ich den Höchst­be­trag, der an Opfer ausbe­zahlt wird, bekom­men soll­te, war sehr schwie­rig für mich. Ich hatte lange Zeit Mühe, mich mit diesem Geld «anzu­freun­den», weil es für mich «schmut­zig» war. Mit der Zeit konn­te ich mich dazu über­win­den, zu versu­chen, mit dem Geld meine Seele und meinen Körper wieder eini­ger­mas­sen «gesund zu machen». Mit Dingen, die ich mir sonst aus finan­zi­el­len Grün­den nicht leis­ten und die Kran­ken­ver­si­che­rung nicht bezah­len würde.


«Meinen Seelen­frie­den finden»
Beim ersten Gespräch mit den Ansprech­per­so­nen des Fach­gre­mi­ums formu­lier­te ich meine innigs­ten Wünsche so: Meinen Seelen­frie­den finden, keine Angst mehr haben vor dem Pfar­rer und vor der Hölle, mit der er mir gedroht hatte. Ich wünsch­te mir, mein inne­res Bild – der Pfar­rer stehe im Jenseits zwischen Gott und mir – möge verschwin­den. In tief­grün­di­gen Gesprä­chen mit Seel­sor­ger Sepp Koller (Ansprech­per­son des Fach­gre­mi­ums) gelang es mir, meine immense Angst vor der Hölle und der Bestra­fung durch Gott Schritt um Schritt in mir abzu­bau­en. Meinen Seelen­frie­den habe ich noch nicht gefun­den. Verges­sen kann ich den Miss­brauch wohl nie. Dem Pries­ter kann ich nicht verge­ben, das verlangt auch niemand von mir. Aber jetzt kann ich endlich über das Gesche­he­ne, über meine Gefüh­le und Ängs­te offen spre­chen. Es gibt Situa­tio­nen, in denen auch die Ansprech­per­so­nen sprach­los sind, wenn ich ihnen vom Miss­brauch erzäh­le. Auch dieses gemein­sa­me Schwei­gen tut mir gut.

Wütend und traurig 

Eine Versöh­nung mit der Insti­tu­ti­on Kirche ist mir bis jetzt nicht gelun­gen, wird es vermut­lich nie ganz geben. Denn immer wieder erle­be ich Situa­tio­nen, die es mir schwer machen, zu vertrau­en. Zum Beispiel, wenn ich erle­be, dass Kirchen­ver­tre­ter sich dem Thema nicht stel­len wollen. Das macht mich als Opfer wütend und trau­rig. Solan­ge es Seel­sor­ger gibt, die bei diesem Thema schwei­gen und nicht wahr­ha­ben wollen, dass einer der Haupt­grün­de für Kirchen­aus­trit­te der Macht- und sexu­el­le Miss­brauch ist, wird sich nie etwas ändern. Miss­brauchs­op­fer wollen von der Kirche Offen­heit, Ehrlich­keit und die Aner­ken­nung des Leidens. 

Schritt auf dem Verar­bei­tungs­weg
Den Bericht habe ich nicht der Kirche zu Liebe geschrie­ben, niemand hat mich ermu­tigt dazu. Es war mein Entscheid, weil ich glau­be, dies ist ein weite­rer Schritt auf meinem Verar­bei­tungs­weg. Ich möch­te zudem aus der Opfer­per­spek­ti­ve aufzei­gen, wie wich­tig es ist, dass sich Kirchen­ver­tre­ter den Themen «Macht und sexu­el­ler Miss­brauch» stel­len. Beim Schrei­ben hatte ich stets ein Auge auf den Respekt ande­ren Opfern gegen­über. Ich hoffe, es ist mir gelun­gen. Mein gros­ser Dank geht an das Fach­gre­mi­um – insbe­son­de­re an die Ansprech­per­so­nen Dolo­res Waser Balmer und Sepp Koller – für die Beglei­tung und Unter­stüt­zung in den letz­ten einein­halb Jahren. Ihnen schen­ke ich mein volls­tes Vertrau­en. Mit vielem hatte ich gerech­net. Aber nicht damit, ausge­rech­net von Kirchen­ver­tre­tern Hilfe anneh­men zu können.

Autor*in: Name der Redak­ti­on bekannt.

Veröf­fent­licht: Janu­ar 2020

In der Bericht­erstat­tung über sexu­el­le Über­grif­fe im kirch­li­chen Umfeld wird meis­tens über die Fälle und die Täter berich­tet. Doch wie verar­bei­ten Opfer die Miss­brauchs­er­fah­rung? Und was erle­ben sie bei der Beglei­tung durch die kirch­li­chen Fach­leu­te? Der Text von A*. wurde im Rahmen der Beglei­tung der Betrof­fe­nen durch das «Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe» verfasst. Das Fach­gre­mi­um des Bistums St.Gallen wurde 2002 von Bischof Ivo Fürer einge­setzt. Es steht allen Betrof­fe­nen – Opfer und Täter, aber auch Menschen aus deren Umfeld – zur Verfügung.

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