«Es ist erschreckend und beschämend»

Der Bischof des Bistums St. Gallen hat am 13. Septem­ber zur Medi­en­kon­fe­renz in den Saal der Bischofs­woh­nung gela­den. «Es ist erschre­ckend und beschä­mend, was heraus­ge­kom­men ist», sagt Bischof Markus Büchel vor einer Schar Medi­en­schaf­fen­den über die Pilot-Studie – die Kame­ras auf ihn gerich­tet, die Mikro­fo­ne vor ihm auf dem Tisch.

Bischof Markus Büchel stellt sich den Fragen der Medi­en­schaf­fen­den – einen Tag nach­dem die schweiz­wei­te Pilot-Studie der Univer­si­tät Zürich über sexu­el­len Miss­brauch in der katho­li­schen Kirche publik gewor­den ist. «Ich fühle gros­sen Schmerz und werde alles daran­set­zen, dass die beschlos­se­nen Mass­nah­men grei­fen», sagt Bischof Markus Büchel. Die Studie brach­te erschre­cken­de Zahlen zum Vorschein. Zwischen 1950 und heute gab es schweiz­weit 1002 Fälle sexu­el­len Miss­brauchs in der katho­li­schen Kirche.

Fehler gemacht

Die Studie attes­tiert dem Bistum St. Gallen eine profes­sio­nel­le Führung des Archivs und eine voll­um­fäng­li­che Unter­stüt­zung durch den Archi­var. Die Archi­vie­rung der Akten des Fach­gre­mi­ums seien gar vorbild­haft. Die Studie zeigt aber auch zwei Fälle aus dem Bistum St. Gallen. Bischof Markus Büchel wirkt ange­spannt, als er am ovalen Tisch Auskunft gibt und den Anwe­sen­den Red und Antwort steht. «Ich habe Fehler gemacht. Einen gros­sen Fehler», sagt er mit gebro­che­ner Stim­me. «Dazu muss ich stehen.» Durch sein Verhal­ten seien Fälle baga­tel­li­siert und einer Vertu­schung Vorschub geleis­tet worden. «Das tut mir leid. Ich möch­te daraus lernen.» Bischof Ivo Fürer, Büchels Vorgän­ger, unter­liess es – so die Studie – trotz Hinwei­sen, einen beschul­dig­ten Pries­ter aus dem Bistum St. Gallen zu melden bezie­hungs­wei­se mit Konse­quen­zen zu bele­gen. Büchel seiner­seits wird in der Studie vorge­wor­fen, nicht konse­quent genug gehan­delt zu haben.

Anders handeln

Bei seinem Amts­an­tritt habe er keine offe­nen Fälle über­ge­ben bekom­men, erklärt Büchel am Medi­en­ge­spräch. «Ich bin davon ausge­gan­gen, dass der Fall abge­schlos­sen ist.» Er habe es unter­las­sen, die Vorab­klä­run­gen durch Bischof Ivo Fürer erneut zu prüfen und zu handeln. «Es war der einzi­ge Fall, der mir vom Fach­gre­mi­um gemel­det wurde, den ich aber nicht ange­gan­gen bin.» Der Fall war seiner­zeit einer der ersten, den das 2002 von Bischof Ivo Fürer gegrün­de­te Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe behan­del­te. Seinen Vorgän­ger nimmt Markus Büchel teil­wei­se in Schutz. «Er nahm die Sache ernst und hat mit dem Beschul­dig­ten Gesprä­che geführt. Aber es gab eine Befan­gen­heit.» Zudem bestehe die Pflicht, solche Fälle in Rom zu melden, erst seit 2019. Büchel zeigt sich einsich­tig: «Ich hätte inten­si­ver handeln müssen. Heute hätte ich anders gehandelt.»

Mass­nah­men getroffen

Bei Miss­brauchs­fäl­len muss heute seitens der Kirche Straf­an­zei­ge bei der Poli­zei einge­reicht werden. Am Medi­en­ge­spräch sagt Bischof Markus Büchel, er wisse noch nicht, wer der Beschul­dig­te sei. Die Studie sei stark anony­mi­siert worden – auch zum Schutz der Betrof­fe­nen. Nur kurze Zeit später räumt das Bistum auf noch­ma­li­ge Nach­fra­ge ein: «Der betref­fen­de Pries­ter arbei­tet defi­ni­tiv nicht mehr in der Seel­sor­ge.» Wie Bischof Markus Büchel an der Pres­se­kon­fe­renz mitteilt, ist eine Vorun­ter­su­chung einge­lei­tet und eine Straf­an­zei­ge bei der Staats­an­walt­schaft einge­reicht worden. Er hoffe, dass nun Licht ins Dunkel und eine Rück­mel­dung aus Rom komme, so Büchel. Die Verant­wort­li­chen verwei­sen auf das laufen­de Verfah­ren, weite­re Auskünf­te sind deshalb nicht möglich. Für den Beschul­dig­ten gilt die Unschulds­ver­mu­tung. Ein Jour­na­list stellt die Frage nach den persön­li­chen Konse­quen­zen für den St. Galler Bischof: Tritt er von seinem Amt zurück? Bischof Markus Büchel verneint, das sei vorerst noch kein Thema. Er wolle zuerst die Ergeb­nis­se der Vorun­ter­su­chung abwar­ten. «Wenn Rom meinen Rück­tritt fordert, werde ich zurücktreten.»

Aufde­cken und aufarbeiten

Wie Bischof Markus Büchel ausführt, wird die Rolle des Bistums St. Gallen im Bezug auf die Zusam­men­ar­beit mit dem Fach­gre­mi­um noch kriti­scher über­prüft. «Es ist beispiels­wei­se nicht rich­tig, wenn das Fach­gre­mi­um nur Bera­tungs­funk­ti­on hat.» Alle beschlos­se­nen Mass­nah­men (siehe Kasten) sollen auch im Bistum St.Gallen umge­setzt werden. Dieses verpflich­tet sich, die für die Umset­zung der Mass­nah­men nöti­gen Ressour­cen bereit­zu­stel­len. Der Bischof setze sich für «ein scho­nungs­lo­ses Aufde­cken und Aufar­bei­ten des sexu­el­len Miss­brauchs im Bistum St. Gallen» ein.

«Ich glau­be dem Bischof»

An der Pres­se­kon­fe­renz ist auch Vreni Pete­rer anwe­send. Die 62-Jährige ist Präsi­den­tin der Inter­es­sen­ge­mein­schaft für Miss­brauchs­be­trof­fe­ne im kirch­li­chen Umfeld (IG-MikU) und selbst Betrof­fe­ne. Aufmerk­sam lauscht sie den Ausfüh­run­gen des St. Galler Bischofs. «Ich nehme ihm die Entschul­di­gung ab und glau­be dem Bischof, wenn er sagt, es täte ihm leid», sagt Pete­rer nach dem Medi­en­ge­spräch auf Nach­fra­ge. «Ja, er hat einen gros­sen Fehler gemacht. Ich denke jedoch, dass er nicht wirk­lich vorsätz­lich vertuscht hat. Er hat aber im entschei­den­den Moment nicht rich­tig gehan­delt bezie­hungs­wei­se nicht hinge­schaut und nicht gehan­delt.» Enttäuscht und scho­ckiert ist sie vom Vorge­hen von Bischof Ivo Fürer, der das Fach­gre­mi­um mehr­mals vertrös­tet habe. «Im Nach­hin­ein wirkt sein dama­li­ger Auftrag zur Grün­dung des Fach­gre­mi­ums auf mich wie eine Alibi­übung.» Wie sie zuvor am Medi­en­ge­spräch ausführt, habe sie in ihrer Funk­ti­on mehr­mals von Betrof­fe­nen gehört, dass deren Glaub­wür­dig­keit in Frage gestellt wurde. «Das darf nicht sein. Wich­tig ist, dass den Betrof­fe­nen geglaubt wird.» Sie erwar­te nun die nöti­ge Profes­sio­na­li­tät der Verant­wor­tungs­trä­ger. «Diese müssen den Mut haben, Fehler einzu­ge­ste­hen und sich und ihr Verhal­ten zu korrigieren.»

Forde­rung der IG-MikU

Vreni Pete­rer begrüsst die Mass­nah­men des Bistums. «Jede Mass­nah­me bringt uns einen Schritt weiter und hilft, die Schwel­le für weite­re Miss­bräu­che höher zu legen.» Dennoch hofft sie, dass noch weite­re Anstren­gun­gen seitens der Katho­li­schen Kirche unter­nom­men werden. Die IG-Miku fordert, dass die Bevöl­ke­rung nun nicht allei­ne gelas­sen wird. Gemeint sind all jene Menschen, die nicht unmit­tel­bar betrof­fen, aber dennoch verun­si­chert und ergrif­fen sind. «Es tun sich nun Fragen auf wie: Wem kann ich über­haupt noch vertrau­en? Diese Menschen müssen aufge­fan­gen werden.» Denk­bar wären etwa Infor­ma­ti­ons­aben­de. Pete­rer sieht auch die Pfar­rei­en in der Pflicht. «Die Ange­bo­te sollen auch von der Basis kommen.» 

Konkre­te Massnahmen

Bischof Joseph Maria Bonn­emain, der bei der Medi­en­kon­fe­renz in Zürich die Bischofs­kon­fe­renz vertrat, kündig­te konkre­te Mass­nah­men an. Unter ande­rem sollen für Betrof­fe­ne schweiz­weit profes­sio­nel­le Ange­bo­te geschaf­fen werden, bei denen sie Miss­bräu­che melden können. Künf­ti­ge Pries­ter, stän­di­ge Diako­ne, Mitglie­der von Ordens­ge­mein­schaf­ten und weite­re Seel­sor­gen­de sollen im Rahmen ihrer Ausbil­dung stan­dar­di­sier­te psycho­lo­gi­sche Abklä­run­gen durch­lau­fen. In einer schrift­li­chen Selbst­ver­pflich­tung erklä­ren alle kirch­li­chen Verant­wort­li­chen an der Spit­ze von Bistü­mern, Landes­kir­chen und Ordens­ge­mein­schaf­ten, keine Akten mehr zu vernich­ten, die im Zusam­men­hang mit Miss­brauchs­fäl­len stehen oder den Umgang damit doku­men­tie­ren. Die Studie wird im Janu­ar 2024 mit einem vier­jäh­ri­gen Folge­pro­jekt fortgesetzt.

Text: Ales­sia Paga­ni / Stephan Sigg

Foto: Regi­na Kühne

Veröf­fent­licht: 14.09.2023

Zeit­zeu­gen gesucht

Die Forsche­rin­nen und Forscher bieten eine öffent­li­che Ring­vor­le­sung an der Univer­si­tät Zürich an (Start: 28. Septem­ber). Ausser­dem rufen sie Zeit­zeu­gin­nen und Zeit­zeu­gen auf, sich für die weite­re Forschung zu melden: forschung-missbrauch@hist.uzh.ch

Anlauf­stel­len für Betrof­fe­ne von sexu­el­len Miss­brauch im kirch­li­chen Umfeld:

www.missbrauch-kath-info.ch

www.ig-gegen-missbrauch-kirche.ch

Infor­ma­tio­nen und Kontakt­adres­sen Fach­gre­mi­um des Bistum St.Gallen

«Zu den Fehlern stehen, die ich gemacht habe»

«So schmerz­haft es sein mag, wir müssen uns den Tatsa­chen stel­len», schreibt Bischof Markus Büchel in einem offe­nen Brief an alle Mitar­bei­ten­de in der Seel­sor­ge sowie frei­wil­lig und ehren­amt­lich Enga­gier­te weni­ge Tage nach Präsen­ta­ti­on der Pilot-Studie zum sexu­el­len Miss­brauch — das Pfar­rei­fo­rum konn­te Auszü­ge aus dem Brief vorab lesen. Der Bischof zeigt sich in seinem Brief selbst­kri­tisch: «Ich ganz persön­lich muss zu den Fehlern stehen, die ich gemacht habe.» Ihm sei «sehr bewusst, dass durch jeden einzel­nen Fall von sexu­el­lem Miss­brauch Menschen in ihrem Leben und Glau­ben verun­si­chert und teil­wei­se aus der Bahn gewor­fen werden.»

Perspek­ti­ven­wech­sel

Wie beim Medi­en­ge­spräch in St. Gallen betont der St. Galler Bischof auch in seinem Brief, «der Respekt vor den Opfern gebie­tet es, sich mit den Ergeb­nis­sen der Studie zu befas­sen», es brau­che einen Perspek­ti­ven­wech­sel. Was er darun­ter versteht und wie das genau gesche­hen soll, führt er nicht aus. Er zählt noch­mals alle Mass­nah­men auf, die die Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz beschlos­sen hat und weist darauf hin, dass sie entschlos­sen seien, «in den Themen der Macht­fra­gen, der Sexu­al­mo­ral, des Priester- und Frau­en­bil­des wie der Ausbil­dung und Perso­nal­aus­wahl konkre­te Schrit­te zu unter­neh­men, die auch in der Studie einge­for­dert werden».

Die Fälle im Bistum St. Gallen

In die Studie wurden zwei Fälle, die das Bistum St. Gallen betref­fen, aufge­nom­men: Idda­heim in Lütis­burg (Studie, S. 69 bis 71): Beschrie­ben sind Meldun­gen zahl­rei­cher Fälle psychi­scher, physi­scher und sexu­el­ler Gewalt unter ande­rem im Zeit­raum zwischen 1978 und 1988, durch einen der Direk­to­ren, ein Pries­ter aus dem Bistum St. Gallen. Weiter beschreibt die Studie Berich­te von sexu­el­len Über­grif­fen und Gewalt durch einen Erzie­her und einen Gärt­ner (zwischen 1964 bis 1971) sowie durch Menzin­ger Schwes­tern. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. Das heuti­ge Kinder­dörf­li Lütis­burg ist seit vielen Jahren nicht mehr unter kirch­li­cher Führung.

Der Fall E.M. (Pseud­onym, S. 96 bis 100): Im Jahr 2002, als das Fach­gre­mi­um erst­mals einge­setzt wurde, melde­te eine Frau länger zurück­lie­gen­de Über­grif­fe des Pries­ters E.M.. Es fanden Gesprä­che mit dem Beschul­dig­ten und Ivo Fürer, dem dama­li­gen Bischof, statt. Da E.M. die gegen ihn erho­be­nen Vorwür­fe bestritt und sich die Anschul­di­gun­gen nicht erhär­te­ten, schie­nen sich diese zu entkräf­ten. Weni­ge Wochen später gab es weite­re Hinwei­se durch eine ehema­li­ge Heim­mit­ar­bei­te­rin, worauf das Fach­gre­mi­um Empfeh­lun­gen an Bischof Fürer aussprach. Das Fach­gre­mi­um stell­te zudem klar, dass es nicht Unter­su­chungs­be­hör­de sein kann. Trotz eindeu­ti­ger Empfeh­lun­gen durch das Fach­gre­mi­um St. Gallen und jenes der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz (SBK) unter­nahm der dama­li­ge Bischof keine weite­ren Schrit­te; E.M. erhielt eine weite­re Stel­le. Bis 2009 war er zusätz­lich in einer Funk­ti­on im Bistum ange­stellt. Im April 2010 feier­te E.M. zusam­men mit dem neuen Bischof Markus Büchel eine Messe. Dies führ­te bei einer betrof­fe­nen Person zu einer hefti­gen emotio­na­len Reak­ti­on, worauf sie sich beim Fach­gre­mi­um melde­te. 2012 wurde E.M. zwar versetzt, aber trotz­dem in verschie­de­nen Gemein­den als Seel­sor­ger einge­setzt. Noch im Janu­ar 2023 sind gemäss Studie Eucha­ris­tie­fei­ern mit E.M. fest­ge­hal­ten. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. (Bistum St.Gallen / ssi)

Hinter­grund: Dossier mit allen Infor­ma­tio­nen zur Pilot-Studie und den bishe­ri­gen Mass­nah­men im Bistum St.Gallen

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