«Zu viel Konsum kollidiert mit der Totenruhe»

Der Fried­hof als Gedenk­ort für Verstor­be­ne verliert an Bedeu­tung. Das stellt Dani­el Klin­gen­berg, refor­mier­ter Pfar­rer im Toggen­burg, fest. Was bedeu­tet das für unse­re Gesell­schaft und den Umgang mit dem Tod und der Trauer?

Dani­el Klin­gen­berg (61) zeigt in seinem Beitrag «Die Aufer­ste­hung der Fried­hö­fe als multi­funk­tio­na­ler Raum», der im Neujahrs­blatt 2023 des Histo­ri­schen Vereins des Kantons St. Gallen erschie­nen ist, die Nutzungs­ver­än­de­rung von Fried­hö­fen an Beispie­len aus den Städ­ten St. Gallen und Bern auf. Sein Befund ist eindeu­tig: Immer weni­ger Erdbe­stat­tun­gen, immer mehr Krema­tio­nen. Urnen­be­stat­tun­gen brau­chen weni­ger Platz, wodurch die frei werden­den Grün­flä­chen auf den Fried­hö­fen zuneh­men. Mit dem zahlen­mäs­si­gen Rück­gang kirch­li­cher Bestat­tungs­ri­tua­le kommt ein neuer Trend dazu: Immer mehr Menschen wünschen eine indi­vi­du­el­le Bestat­tung ohne kirch­li­che Liturgie. 

Dani­el Klin­gen­berg, Sie spre­chen von drei gesell­schaft­li­chen «Mega­trends» im Wandel der Fried­hö­fe. Können Sie diese kurz umschreiben?

Dani­el Klin­gen­berg: Es geht gene­rell um einen reli­gi­ons­so­zio­lo­gi­schen Befund. Das ist erstens die Indi­vi­dua­li­sie­rung unse­rer Gesell­schaft, die auch im Glau­bens­be­reich wirk­sam ange­kom­men ist. Dazu gehö­ren weiter der Werte­wan­del sowie die reli­giö­se Plura­li­sie­rung. Damit hat sich auch der Umgang mit dem Lebens­en­de verän­dert. Das kirch­li­che Stan­dard­ri­tu­al wird immer öfter durch selbst­ge­wähl­te Abschieds­for­men ersetzt.

Die Feuer­be­stat­tung hat in den letz­ten Jahren sehr stark zuge­nom­men. Wie erklä­ren Sie sich diese Entwicklung?

Dani­el Klin­gen­berg: Das kann man mit dem Werte­wan­del sehr schön aufzei­gen. Dass die Erdbe­stat­tung Voraus­set­zung ist für die christ­li­che Vorstel­lung von der Aufer­ste­hung des Leibes, und dass diese wich­tig sei, scheint heute unwich­tig. Seit dem Jahr 1963 ist die Feuer­be­stat­tung von der katho­li­schen Kirche auch lehr­mäs­sig akzep­tiert. Hinzu kommen prak­ti­sche Grün­de: Eine Krema­ti­on ist viel «platz­spa­ren­der» und bei der Urnen­bei­set­zung fallen oft ein indi­vi­du­el­ler Grab­stein sowie die Grab­pfle­ge weg.

Durch diesen dras­ti­schen Rück­gang der Erdbe­stat­tun­gen ist der Platz­be­darf auf den Fried­hö­fen entspre­chend geschrumpft und es gibt verschie­de­ne Ideen zur Umnut­zung dieser Grün­flä­chen. Was geht aus Ihrer Sicht gar nicht auf einem Friedhofsareal?

Dani­el Klin­gen­berg: Ich sehe vor allem bei Frei­zeit­nut­zun­gen ein Konflikt­po­ten­zi­al. Alles, was zu konsum­ori­en­tiert ist, kolli­diert meiner Meinung nach mit dem Phäno­men Tod. Ich kann mir ein Konzert auf einem Fried­hof vorstel­len, vorausgesetzt, die Örtlich­kei­ten werden in der Veran­stal­tung sinn­voll einge­bun­den. Es kommt also stark auf den Rahmen an. Grund­sätz­lich glau­be ich, dass auf einem Fried­hofs­are­al vieles möglich ist.

Was wäre aus Ihrer Sicht eine sinn­vol­le Umnutzung?

Dani­el Klin­gen­berg: Wich­tig scheint mir, dass die Grün­flä­chen beibe­hal­ten werden und öffent­lich zugäng­lich sind. Dabei soll­te auf lärmi­ge und tempo­rei­che Akti­vi­tä­ten verzich­tet werden. Ich stel­le mir grüne Oasen vor, ohne inten­si­ve Nutzung und ohne Zweckbestimmung. 

Im 19. Jahr­hun­dert wurde die Fried­hofs­zu­stän­dig­keit von einer kirch­li­chen zu einer staat­li­chen Aufga­be. Sie schrei­ben in einer Schluss­fol­ge­rung «im Bereich der Neuge­stal­tung frei werden­der Fried­hofs­flä­chen als Orte der Ruhe hätten Kirchen spiri­tu­el­le Kompe­ten­zen einzu­brin­gen.» Finden Sie, die Kirche enga­giert sich dies­be­züg­lich zu wenig? 

Dani­el Klin­gen­berg: Tod und die Trau­er sind eigent­lich spiri­tu­el­le Themen, der Umgang damit gehört zur Kern­kom­pe­tenz der Kirche. Bei der Verän­de­rung der Fried­hofs­nut­zung wäre es daher nahe­lie­gend, dieses Wissen einzu­brin­gen. Die Poli­tik hat kaum Inter­es­se daran, was man mit der Lang­sam­keit des Umnut­zungs­pro­zes­ses erklä­ren kann. Das Thema geht quasi vergessen.

Immer häufi­ger wenden sich Menschen von kirch­li­chen Bestat­tun­gen ab und wollen eine Natur­be­stat­tung. Dabei wird die Asche in der frei­en Natur, etwa an einem persön­li­chen Kraft­ort des Verstor­be­nen oder in Bestat­tungs­wäl­dern verstreut. Was halten Sie davon? 

Dani­el Klin­gen­berg: Das geht mit einem Verlust einher. Ich empfin­de eine öffent­li­che Trau­er­fei­er als sehr wich­tig im ganzen Trau­er­pro­zess. Aus der Trau­er­for­schung ist bekannt, dass das gemein­sa­me Abschied­neh­men für Ange­hö­ri­ge sehr trös­tend sein kann. Durch die indi­vi­du­el­len Abschieds­fei­ern im priva­ten Rahmen verschwin­det dieses kollek­ti­ve Ritu­al. Zudem gibt es keinen öffent­lich zugäng­li­chen Gedenk­ort für die verstor­be­ne Person.

Was denken Sie, wie sehen unse­re Fried­hö­fe in 50 Jahren aus?

Dani­el Klin­gen­berg: Ich denke nicht, dass sich so schnell etwas ändern wird. Die Verän­de­rung der Fried­hö­fe ist ein sehr lang­sa­mer Prozess. Es ist wich­tig zu wissen, was die Bevöl­ke­rung denkt. Dabei ist eine verant­wor­tungs­be­wuss­te Planung entschei­dend. Weil das Thema mit vielen unter­schied­li­chen Meinun­gen, Emotio­nen und örtli­chen Gege­ben­hei­ten verknüpft ist, gibt es auch viel­fäl­ti­ge Vari­an­ten der Umnut­zung. Ich vermu­te, dass man die Grün­flä­chen als Oasen behal­ten wird. In einzel­nen Fällen wird es in urba­nen Räumen aufgrund des Sied­lungs­dru­ckes Umnut­zun­gen geben. 

Dani­el Klin­gen­berg ist Pfar­rer in der Evangelisch-reformierten Kirch­ge­mein­de Mitt­le­res Toggen­burg und Publizist.

Text: Katja Hongler

Bild: Regi­na Kühne / zVg.

Veröf­fent­licht: 23. Okto­ber 2023

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