«Die Komfortzone verlassen»

«Als ich eine neue Wohnung gesucht habe, habe ich visua­li­siert: Wie möch­te ich wohnen? Wie soll­te die Wohnung gele­gen sein? Wie soll­ten die einzel­nen Räume ausse­hen?», erin­nert sich Aline Fisch­ba­cher und merkt schmun­zelnd an: «Ich habe dann tatsäch­lich so eine Wohnung gefun­den. Aber ich schrei­be das jetzt nicht der Kraft der Mani­fes­ta­ti­on zu, sondern der akti­ven Ausein­an­der­set­zung mit meinen Wünschen und Bedürf­nis­sen. Dabei ist mir klar gewor­den, was ich wirk­lich will, und das hat bei der Suche nach der passen­den Wohnung geholfen.»

Aline Fisch­ba­cher kann nach­voll­zie­hen, warum das Mani­fes­tie­ren heute auf viele so faszi­nie­rend wirke. Und: «Gegen die Grund­idee des Mani­fes­tie­rens ist nichts einzu­wen­den», sagt die St. Galle­rin. «Gefähr­lich wird es hinge­gen, wenn Mani­fes­tie­ren mit einem Heil­ver­spre­chen gleich­ge­setzt wird im Stil von: Du musst es dir nur ganz genau vorstel­len, dann klappt es auch.»

Posi­ti­ve Visi­on als Antrieb

Aline Fisch­ba­cher ist als Coach, Super­vi­so­rin und Bera­te­rin tätig. Sie unter­stützt unter ande­rem Einzel­per­so­nen sowohl im beruf­li­chen Kontext als auch bei priva­ten Frage­stel­lun­gen und bietet Super­vi­sio­nen, Bera­tun­gen und Coachings für Orga­ni­sa­tio­nen an. «Egal, ob privat oder beruf­lich, es ist wich­tig, sich Ziele zu setzen und sich aktiv damit ausein­an­der­zu­set­zen, wohin man genau möch­te.» So etwas inspi­rie­re und helfe, einen Prozess in Gang zu setzen. «Sowohl als Einzel­per­son als auch als Team braucht man eine posi­ti­ve Visi­on. Ich erle­be immer wieder, wie dies Ener­gie und Moti­va­ti­on in Gang setzt, sodass man auch Lust bekommt, dieses Ziel zu errei­chen.» Gleich­zei­tig führe kein Weg daran vorbei, sich mit dem eige­nen Beitrag ausein­an­der­zu­set­zen: «Egal, um welche Verän­de­rung es geht, es klappt nur, wenn ich bereit bin, die Komfort­zo­ne zu verlas­sen. Das kann Unter­schied­li­ches bedeu­ten: Die Bezie­hungs­pfle­ge spielt eine wich­ti­ge Rolle, also mein Umfeld akti­vie­ren oder mein Netz­werk ausbau­en, viel­leicht muss ich mir neue Kompe­ten­zen aneig­nen.» Gera­de diese Aspek­te blen­den manche «Mani­fes­ta­ti­ons­gu­rus» aus. Wich­tig sei auch, dass die Visi­on dyna­misch blei­be: «Das Leben ist ein Prozess und deshalb gilt es auch, Visio­nen immer wieder zu hinter­fra­gen und weiter­zu­ent­wi­ckeln.» Sich auf eine bestimm­te Visi­on zu fixie­ren, kann blockie­ren, es fehlt die Offen­heit für ande­re Optio­nen. Sie spricht aus eige­ner Erfah­rung: «Zuerst arbei­te­te ich bei der SBB, dann führ­te mich mein Weg zur Poli­zei, bis ich mich schliess­lich selbst­stän­dig mach­te. Wenn ich mich von Anfang an total verbis­sen auf einen Traum­job fixiert hätte, wäre ich wahr­schein­lich nicht dort, wo ich heute bin.»

Viele werden heute auf Insta­gram auf Dinge aufmerk­sam, die sie für erstre­bens­wert halten. Illus­tra­ti­on: Elena Kaeser

Was will ich wirklich?

In ihrer beruf­li­chen Tätig­keit hat Aline Fisch­ba­cher auch schon an einer Berufs­schu­le Jugend­li­che gecoacht: «Eini­ge nann­ten ‹Influen­cer› als Traum­be­ruf. Im Gespräch stell­te sich heraus, dass sie diesen Beruf so erstre­bens­wert finden, weil sie auf Insta­gram und Tiktok stän­dig mit Influen­cern konfron­tiert werden. Das war für sie präsen­ter als die Frage: Was will ich persön­lich wirk­lich? Was tut mir gut? Und wo liegen meine Stär­ken?» Gera­de diese Fragen stehen bei der Posi­ti­ven Psycho­lo­gie im Fokus. Diese rela­tiv junge Wissen­schaft war auch Teil von Aline Fisch­ba­chers Ausbil­dung. Die Posi­ti­ve Psycho­lo­gie wird oft fälsch­li­cher­wei­se mit dem posi­ti­ven Denken verwech­selt: «Die Posi­ti­ve Psycho­lo­gie erforscht wissen­schaft­lich, was uns glück­lich und zufrie­den macht. Ein wesent­li­cher Anteil dabei ist die Ausein­an­der­set­zung sowohl mit den Stär­ken als auch mit den Schwä­chen. Sie zielt darauf ab, das Beste im Leben zu fördern, schlim­me Erfah­run­gen und Erleb­nis­se zu über­win­den und das Leben der Menschen lebens­wer­ter zu machen.» Es gehe darum, den Blick nicht nach aussen, sondern nach innen zu rich­ten und zu lernen, mit sich selbst zufrie­den zu sein – eigent­lich nichts Neues, das Chris­ten­tum und viele ande­re Reli­gio­nen lehren das seit Jahr­tau­sen­den. Gut möglich, dass gera­de Social Media und die stän­di­ge Vergleich­bar­keit – wer hat was, wer erlebt was – das Mani­fes­tie­ren gera­de bei jungen Erwach­se­nen so popu­lär gemacht haben.

Nicht bewer­ten

Menschen, die komplett in der Manifestations-ideologie gefan­gen sind, sind Aline Fisch­ba­cher in ihrem beruf­li­chen und priva­ten Umfeld bis jetzt noch kaum begeg­net. Aber was kann ich tun und sagen, wenn plötz­lich meine beste Freun­din vom Mani­fes­tie­ren als Allheil­mit­tel über­zeugt ist? «Das Wich­tigs­te ist, nicht zu bewer­ten», ist die Super­vi­so­rin über­zeugt, «man kann ja mal nach­fra­gen: Warum ist dir das so wich­tig? Was macht dich wirk­lich glück­lich?» Sinn­vol­ler als endlo­se Diskus­sio­nen zu führen, sei, etwas mit der Person zu unter­neh­men und sie zu Akti­vi­tä­ten einzu­la­den. Das eröff­net für alle Betei­lig­ten eine Perspek­ti­ve. Denn die Posi­ti­ve Psycho­lo­gie zeigt auch: Zufrie­den­heit finden die Menschen vor allem durch geleb­te Beziehungen. 

Text: Stephan Sigg

Bild: zVg

Veröf­fent­li­chung: 26.07.2024

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