Lea, Sarah und Corina – die drei quirligen blonden Mädchen von Nicole und Samuel Falk, begrüssen den Pfarreiforum-Besuch an diesem goldigen Herbstabend in ihrem Zuhause in Speicher.
Es ist Zeit, um ins Bett zu gehen. Die vierjährige Sarah drückt ihrem Mami noch einen liebevollen Kuss auf den Bauch und sagt «gute Nacht, Baby». Nicole Falk ist erneut schwanger. Es scheint, als lebe hier eine glückliche, komplette Familie. Doch ein Kinderlachen fehlt: dasjenige von Julia. Das kleine Mädchen ist ein Sternenkind. Und es ist der 2.März 2019, der das Leben der Falks für immer veränderte.
«Vielleicht gibt unsere Geschichte irgendjemandem ein kleines bisschen Kraft und Zuversicht, dass das Leben trotz des riesigen Verlusts irgendwann wieder schön werden kann.»
Nicole Falk
Komisches Bauchgefühl
Nicole und Samuel Falk haben es sich reifl ich überlegt, ob sie über ihr Schicksal in einem Interview sprechen möchten. «Vielleicht gibt unsere Geschichte irgendjemandem ein kleines bisschen Kraft und Zuversicht, dass das Leben trotz des riesigen Verlusts irgendwann wieder schön werden kann», schildern Nicole und Samuel Falk ihre Beweggründe, offen über die dunkelste Zeit in ihrem Leben zu reden. Die beiden sitzen an ihrem grossen Esstisch, vor sich eine rosafarbene Kartonbox. Diese ist voll mit Erinnerungsstücken. Es sind Andenken an Julia, das vierte Kind des Paares. Die Schwangerschaft mit Julia verlief völlig normal und ohne Komplikationen. In der Woche wunderte sich Nicole Falk, dass das Baby in ihrem Bauch sehr ruhig war. Während sie ihren Mann noch dazu animierte, trotzdem am geplanten Familienskitag teilzunehmen, fuhr Nicole Falk am Samstagmorgen, 2. März 2019, gemeinsam mit ihrem Vater in die Klinik Stephanshorn in St.Gallen und liess sich von ihrer Hebamme untersuchen. «Zu diesem Zeitpunkt machte ich mir keine allzu grossen Sorgen. Ich begründete die ausbleibenden Kindsbewegungen mit dem Platzmangel in meinem Bauch und dachte, dass Julia reelle Überlebenschancen hätte, wenn sich beim Untersuch herausstellen sollte, dass sie früher geholt werden muss», beschreibt Nicole Falk ihre damalige Gefühlslage. Als die Hebamme beim Abtasten des Bauches bemerkt, dass hier etwas alles andere als normal ist, wird eine Gynäkologin beigezogen. Fieberhaft sucht die Ärztin nach den Herztönen von Julia – vergebens. Das kleine Mädchen reiste zu den Sternen, bevor ihre Familie es kennenlernen durfte.
Der schwerste Anruf
«Alle um mich herum verfi elen in eine Art Schockstarre. Auch ich verlor komplett das Zeitgefühl. Wie in Trance rief ich aus dem Gebärzimmer Sämi an – einer der schwersten Momente in meinem Leben», so Nicole Falk. Als der Anruf kam, befand sich ihr Mann gerade bei der Talstation des Skigebiets. Eine Stunde später war der 41-Jährige bei seiner Frau im Spital. Dort versuchte sich das Paar von der Hebamme und dem Ärzteteam das Unfassbare erklären zu lassen. Julia sollte am nächsten Morgen geholt werden. Bereits die älteren drei Kinder kamen per Kaiserschnitt zur Welt. «Ich wollte die Operation sofort hinter mich bringen und nicht mehr bis zum nächsten Tag warten, aber das Spitalteam riet uns davon ab – völlig zurecht, wie wir heute wissen», erzählt Nicole Falk. Den beiden wurde nahegelegt, nochmals nach Hause zu gehen und ihre Liebsten zu informieren. Daheim in Speicher warteten die drei Mädchen, Eltern und Geschwister aufgelöst und überfordert. Gemeinsam spendeten sie sich gegenseitig Kraft, um das Unvorstellbare zu realisieren. «Dies war der erste wichtige Schritt auf unserem Weg der Trauerverarbeitung», resümiert Samuel Falk.
«Den Kindern zuliebe funktionierte ich irgendwie. Mental war ich aber komplett erschöpft und wie gelähmt. Irgendwann begann ich, eine Decke zu nähen.»
Nicole Falk
Beklemmende Stille
Sonntagmorgen, am 3. März 2019, folgte der schwere Weg in die Klinik zur vierten Geburt. War während den vorangegangenen Kaiserschnitten die Stimmung im Operationssaal jeweils beschwingt und fröhlich, herrschte dieses Mal beklemmende Stille. «Wir wussten, hier geschieht etwas, das so eigentlich nicht passieren dürfte – eine stille Geburt», schildert Nicole Falk die damalige Situation. «Ich hatte bis zum Schluss die irrationale Honung, dass Julia trotzdem jeden Moment ihren ersten Schrei macht», so Samuel Falk. Dieser Wunsch blieb unerfüllt. «Als Julia da war, nahm sich ihr sofort unsere Hebamme an und das Pflegeteam sorgte dafür, dass wir unsere Privatsphäre hatten. Wir fühlten uns im Spital stets sehr aufgehoben und umsorgt», so das Paar. Nicole Falk wurde in ein Einzelzimmer verlegt, fernab von den glücklichen Wöchnerinnen. Dann stand den Vierfacheltern der nächste bedrückende Schritt bevor: Sie sollten ihr lebloses Mädchen das erste Mal sehen. «Wir hatten riesigen Respekt vor diesem Augenblick und machten uns Gedanken, wie sie aussieht und was es mit uns macht. Trotz der ganzen ohnmächtigen Situation empfanden wir gleichzeitig Stolz ob unserer schönen Tochter», fasst Samuel Falk das damalige Gefühlschaos zusammen. Dieses Kennenlernen und gleichzeitige Abschiednehmen war ein wichtiger Teil der Trauerarbeit, wissen die beiden heute. «Julias Dasein wurde real und wir tragen seither ein konkretes Bild von ihr im Herzen», so Nicole Falk.

Eine Erinnerungs-Box
Nicht nur in den Herzen ihrer Familie bleibt Julia in Erinnerung: In einer Nische des Wohnzimmers sind Engelchen aufgereiht. Eine Lichterkette und eine Tafel mit einem Sternen-Zitat sind weitere sichtbare Zeichen des sechsten Familienmitglieds. In der rosafarbenen Box liegt ein Album, das ihr viel zu kurzes irdisches Leben mit Ultraschallbildern, Fotos und anderen Andenken dokumentiert. «Wir waren überrascht, wie ähnlich sie unseren drei grossen Mädchen sieht. Sie hatte dieselben blonden Haare und ähnliche Gesichtszüge», erinnert sich Samuel Falk. Das Paar bot den nächsten Angehörigen an, ins Spital zu kommen, um Julia ebenfalls kennenzulernen. Und alle folgten der Einladung. «Wir beschlossen von Anfang an, dass wir offen über Julias Schicksal sprechen wollen und ihre Existenz nicht totgeschwiegen werden soll.» Dem Paar war es freigestellt, wie lange sie Julia bei sich auf dem Zimmer behalten wollten. «Nach ein paar Stunden war für uns beide der Moment gekommen, sie dem Spitalteam zu übergeben.» Tränen fliessen, als Nicole und Samuel Falk diese Erinnerungen laut aussprechen. Sie nehmen sich liebevoll in den Arm.

Todesursache bleibt unklar
Auf Wunsch der Eltern hin wird bei Julia eine Obduktion vorgenommen. Nicole Falk plagten Schuld- und Versagensgefühle. «Ich brauchte die Gewissheit, dass Julias Tod nicht auf ein Fehlverhalten von mir zurückzuführen ist. Zudem stand für mich damals sofort fest: So will und kann ich nicht aufhören. Ich möchte nochmalsein Kind. Dieses soll kein Ersatz für Julia, sondern unser fünftes Kind und das siebte Familienmitglied sein.» Die Untersuchungen ergaben schliesslich keine eindeutige Todesursache: Keine dramatische Unterversorgung, kein Gendefekt, kein Herzfehler trug Schuld daran, dass Julia ein Sternenkind wurde.
Eine Sternendecke für die Trauerbewältigung
Nicole Falk blieb noch fünf Tage im Spital, um sich körperlich vom Kaiserschnitt zu erholen. Ihr Mann wich ihr nur selten von der Seite. Gleichzeitig musste sich Samuel Falk bereits einen Tag nach Julias Geburt wieder dem Alltäglichen stellen. Als selbstständiger Schreinermeister galt es für ihn Aufträge zu disponieren und seine Mitarbeiter zu instruieren. «Diese Zeit zwischen Funktionieren und Trauer war sehr schwierig.» Noch Wochen und Monate später übermannte ihn die Trauer in meist völlig unerwarteten Situationen. Nicole Falk versuchte derweil, sich auf ihre Art dem Alltag zu stellen. «Ohne Baby wieder zu Hause angekommen, fühlte ich mich völlig leer. Wenn ich mich damals hätte zeichnen müssen, wäre in der Mitte meines Körpers ein iesiges Loch gewesen. Den Kindern zuliebe funktionierte ich irgendwie. Mental war ich aber komplett erschöpft und wie gelähmt. Irgendwann begann ich, eine Decke zu nähen.» Diese Patchwork-Decke mit grossen Sternen ist zu Nicole Falks persönlicher Trauer-Handarbeit geworden, bei der enge Freunde und Angehörige ebenfalls mitwirkten und Sterne beisteuerten. «Oft nähte ich an ihr weiter, wenn ich mich besonders ohnmächtig fühlte. Die Ablenkung tat mir gut.» Die Decke ist nun kurz vor ihrem Abschluss. Nur noch ein Zierband fehlt. «Aber irgendetwas hielt mich bis jetzt davon ab, die letzten Stiche zu machen», erzählt die 37-Jährige.
Wut bei den Kindern
Nicht nur die Elternteile trauerten auf unterschiedliche Weise, sondern auch ihre Töchter. Lea mit ihren damals sieben Jahren sprach die ersten zwei Wochen nicht über Julia. «Sie hatte vermutlich als Älteste instinktiv das Gefühl, dass sie uns mit ihrer Trauer nicht zusätzlich belasten darf», erklären sich Nicole und Samuel Falk ihr Verhalten. Währenddessen war die vierjährige Corina stinksauer auf die Ärzte. «Sie fragte uns immer wieder, weshalb denn der Doktor nicht gewartet habe, bis Julias Herz wieder geschlagen hätte». Diese kindlichen Emotionen versuchte das Paar so gut wie möglich aufzufangen. «Julia gehört zu unserer Familie. Sie ist präsent und wir sprechen offen über sie. Deshalb kann es auch schon mal vorkommen, dass eines unserer Mädchen wildfremden Personen mitteilt, dass ihre Schwester gestorben ist und nun der hellste Stern am Himmel ist.»

Private Abschiedsfeier
Eine Woche nach Julias stiller Geburt stand der Familie ein weiterer schwerer Moment bevor: Gemeinsam holten sie im Krematorium die Urne ab und brachten sie nach Hause. «Ziemlich bald war uns klar, dass wir die Urne nicht im Wohnzimmer aufbewahren, sondern Julias Asche an einem schönen Ort im Freien verstreuen möchten», erzählt das Paar. An einem Aussichtspunkt in Speicher neben einer mächtigen Birke, gestalteten Falks schliesslich Mitte März eine persönliche Abschiedsfeier. Ein Gedicht wurde vorgelesen, Luftballons mit liebevollen Gedanken für Julia stiegen gen Himmel und das Jodellied «En Stern» war zu hören. «Für uns und unser nächstes Umfeld war es enorm wichtig, dass wir Julia mit diesem Ritual in eine andere Welt ziehen liessen», hält Nicole Falk fest.
«Wir sind uns bewusst, dass viele Personen mit der Situation überfordert waren. Dennoch hätten wir uns erhofft, dass Bekannte uns häufiger offen auf Julia angesprochen hätten. Jede Reaktion ist besser als gar keine.»
Nicole Falk
Ohnmächtige Reaktionen
Zig Kärtchen mit tröstenden Worten lagen in den Tagen nach dem 3. März 2019 im Briefkasten der Familie. Manche dieser Nachrichten wurden persönlich vor die Türe gelegt, doch nicht einmal läutete es gleichzeitig an der Hausklingel. Mit solchen ausbleibenden Resonanzen bekundete vor allem Nicole Falk grosse Mühe. Ihr Mann erlebte Ähnliches: «Ich wurde im erweiterten Umfeld, wie beispielsweise in den Vereinen, in denen ich Mitglied bin, sehr selten auf unseren Verlust angesprochen. Wir sind uns bewusst, dass viele Personen mit der Situation überfordert waren. Dennoch hätten wir uns erhofft, dass Bekannte uns häufiger offen auf Julia angesprochen hätten. Jede Reaktion ist besser als gar keine. Gleichzeitig erhielten wir aber auch die schöne Gewissheit, dass unser familiärer Zusammenhalt sehr stark ist und der harte Kern unserer Freunde uns in jeder Situation vorbehaltlos beisteht.»
Der erste Geburts- und Todestag
Nicole und Samuel Falk trauern unterschiedlich und die emotionalen Wellen schwappen nicht immer gleichzeitig über die beiden hinweg. Ein Hinweis von ihrer Hebamme motivierte sie, im Mai 2019 erstmals an einem Erzählkreis für Eltern von Sternenkindern teil zunehmen. «Sich bewusst Zeitfenster für die Trauerarbeit herauszunehmen und mit Paaren auszutauschen, die Ähnliches durchmachen, tat uns beiden sehr gut», so ihr Fazit. Nicole Falk wurde mittlerweile sogar Patentante eines Kindes mit einem Sternengeschwister. Die Trauerarbeit ist damit noch längst nicht abgeschlossen aber zumindest. Wird en die dunklen, traurigen Momente immer weniger. «Vergangenen Herbst, als wir an einem Samstag gemeinsam den Garten winterfest machten, empfand ich erstmals wieder etwas Freude und Zufriedenheit», erinnert sich Nicole Falk. Am 3. März 2020, als zeitgleich der 70. Geburtstag von Nicoles Vater ins Haus stand, gedachte die Familie bei Julias Birke ihrem ersten Geburtstag mit einem Kuchen mit Regenbogenmotiv.

Keine Selbstverständlichkeit
Kurz nach Julias erstem Geburtstag hielten Falks einen positiven Schwangerschaftstest in ihren Händen. «Wir entschlossen uns sehr bewusst, es nochmals zu versuchen. Gleichzeitig hatten wir grosse Bedenken, ob uns eine allfällige fünfte Schwangerschaft emotional nicht überfordern würde. Tatsache ist, dass uns dieses Mal jegliche Naivität und ein Grossteil an Unbeschwertheit, wie wir sie bei den vorangegangenen Schwangerschaften erlebten, fehlen. Uns ist tagtäglich bewusst, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, ein gesundes Baby in die Arme schliessen zu dürfen», betont das Paar. Nachdem bekannt war, dass Nicole Falk wieder schwanger ist, bemerkte die 37-Jährige, dass sie in ihrem Umfeld anders wahrgenommen wird. «Nun bin ich beim Einkaufen oder an Elternabenden nicht mehr die Frau mit dem toten Baby, sondern die Schwangere. Auch wenn ich diese Reaktionen nachvollziehen kann, ist trotz fünfter Schwangerschaft in unserem Leben nichts mehr wie es vor dem 2. März 2019 war. Für viele scheint die Welt mit meinem wachsenden Bauch wieder in Ordnung zu sein. Ich merke, wie erleichtert die Menschen sind, dass sie mit mir wieder ein positives Thema ansprechen können.» In den letzten anderthalb Jahren lernten sich Falks selbst, ihr soziales Netz sowie sich als Paar von ganz neuen Seiten kennen. «Nach diesen schweren Monaten gibt es immer mehr Lichtblicke und wir können sagen, dass wir diesen harten Weg gemeinsam so gut wie möglich gemeistert haben und stärker geworden sind.»
Rosalie Manser
Feier für Menschen, die um ein verstorbenes Kind trauern
Als Sternen‑, Schmetterlings- oder Engelskind werden verstorbene Kinder bezeichnet, wenn sie vor, während oder kurz nach der Geburt verstorben sind. Dieses harte Schicksal trifft in der Schweiz jedes Jahr rund 1200 Familien. Am Kantonsspital St.Gallen gibt es pro Jahr 30 bis 35 Sternenkinder. Seit 2019 gibt es im Kantonsspital (Ostseite des Hauses 06) eine Gedenkstätte, wo Angehörige von Sternenkindern trauern können: Ein Findlingsbrunnen mit einladenden Sitzgelegenheiten schafft einen Ort der Besinnung, an dem die Trauernden der Sternenkinder gedenken können. Im Bistum St.Gallen gibt es jeweils im November mehrere Gedenkfeiern für Menschen, die um ein Kind trauern, z.B. am 7. November in der katholischen Kirche St. Peter und Paul St.Gallen. In der Schweiz gibt es verschiedene Organisationen (teilweise mit Ostschweizer Sektionen), die Unterstützung für Familien bieten, die um ein verstorbenes Kind trauern. Nicole Falk hat mitunter geholfen, dass sie bei einer Hebamme ins Rückbildungsturnen ging, die Lektionen speziell für verwaiste Mütter anbietet. Am besten erkundigen sich betroffene Frauen direkt bei ihrer Hebamme nach einem entsprechenden Kontakt.
Infos: «Feier für Menschen, die um ein Kind trauern» am 7. November in St.Gallen