Am Open Air für andere unterwegs

Vier Tage lang mit Freun­den Musik und Konzer­te genies­sen und den Ausnah­me­zu­stand im Sitter­to­bel miter­le­ben: Jugend­ar­bei­ten­de und Mitar­bei­ten­de des Care Teams erzäh­len, welche Chan­cen und Heraus­for­de­run­gen das gera­de für junge  Menschen mit sich bringt.

Das Open Air St. Gallen hat Thomas Fuhrer erst­mals vor drei Jahren besucht. Er bevor­zugt eigent­lich Festi­vals mit einer ande­ren musi­ka­li­schen Ausrich­tung. «Ich mag Heavy Metal», sagt der 28-Jährige, der als katho­li­scher Jugend­ar­bei­ter in der Stadt St. Gallen arbei­tet. An Heavy-Metal-Festivals gefal­le ihm nebst der Musik die fried­li­che Stim­mung. Als Beispiel erzählt er von einem Kolle­gen, der aus betrun­ke­nem Leicht­sinn einem völlig Frem­den seine Kredit­kar­te zur siche­ren Aufbe­wah­rung zusteck­te. «Am nächs­ten Morgen liefen sich die beiden zufäl­lig über den Weg  und der Frem­de sagte: ‹Hey, ich habe übri­gens noch deine Karte›», sagt Thomas Fuhrer und lacht. Ob das nun typisch für ein Heavy-Metal-Festival oder einfach nur Glück gewe­sen sei, wisse er natür­lich nicht.

Als Pfadi am Festival

Seine Motivation, ans Open Air St. Gallen zu gehen, ist eine ande­re. Seit eini­gen Jahren ist er im Care Team beider Appen­zell dabei. Geschieht beispiels­wei­se ein Unfall oder ein ande­res Ereig­nis mit seeli­schen Extrem­be­las­tun­gen, unter­stützt er unmit­tel­bar die Ange­hö­ri­gen. «Als ich dann vor drei Jahren erfuhr, dass das Care Team vom Open Air St. Gallen Mitglie­der sucht, hat mich das sofort ange­spro­chen. Das war für mich eine neue Heraus­for­de­rung», sagt er. Am Open Air St. Gallen liegt ihm noch etwas Weite­res am Herzen. Thomas Fuhrer ist Präses der Pfadi Zentrum St. Gallen. Deren Leitungs­team geht seit Jahren zusam­men ans Open Air. «Ich schaue während des Festi­vals natür­lich auch beim Zelt­platz meiner Pfadi vorbei. Dann bin ich aber privat unter­wegs», sagt er. Dass die Pfadis das seit Jahren so machen und gemein­schaft­lich am Festi­val seien, beein­dru­cke ihn. «Ich denke, gera­de in einer Grup­pe, die sich seit Langem kennt, ist das Verant­wor­tungs­be­wusst­sein gross», sagt er und ergänzt: «Wer beispiels­wei­se an heis­sen Open-Air-Tagen viel Wasser trinkt, macht schon einmal ziem­lich viel rich­tig.» Besorg­ten Eltern rät er, Vertrau­en zu haben und nachts das Handy anzu­las­sen. «Deren Nach­wuchs soll wissen, dass er sich jeder­zeit melden kann», sagt er.

Aus Lange­wei­le pöbeln

Wider­spre­chen möch­te Thomas Fuhrer der These, dass vor allem Jugend­li­che am Open Air beson­de­ren Risi­ken ausge­setzt sind. «Von über­mäs­si­gem Alko­hol­kon­sum oder Gewalt­er­fah­run­gen sind auch Erwach­se­ne betrof­fen», sagt er. So sei ihm vor allem ein Erleb­nis in Erin­ne­rung geblie­ben. Bei der Tele­fon­num­mer des Care Teams habe sich einmal ein Mann gemel­det, dem es lang­wei­lig gewe­sen sei und der daher will­kür­lich Leute ange­pö­belt habe. «Er rief uns an, und erwar­te­te zwei stäm­mi­ge Securitas-Mitarbeiter», sagt Thomas Fuhrer. Als der Pöbler dann ihn und seine Kolle­gin vom Care Team gese­hen habe, beide eher schmäch­tig, habe er gelacht und gemeint, nun werde wohl nichts aus einer Schlä­ge­rei. «So etwas verwun­dert einen schon», sagt Thomas Fuhrer.

Wie sieht es Back­stage beim Open Air St. Gallen aus? Wie sind die Band­gar­de­ro­ben einge­rich­tet und wie ist es, auf der Bühne zu stehen? Weni­ge Tage bevor das Festi­val Ende Juni beginnt, wird die refor­mier­te Reli­gi­ons­päd­ago­gin Tanja Mäder mit Jugend­li­chen und jungen Erwach­se­nen das Gelän­de bege­hen. Bis zu 40 Perso­nen können sich für den Rund­gang anmel­den, den Tanja Mäder in diesem Jahr zum ersten Mal für junge Erwach­se­ne orga­ni­siert. Führungen am Open Air St. Gallen, vor allem für Firmen, macht sie aber seit über 20 Jahren. «Als kirch­li­che Mitar­bei­ten­de ist es nicht einfach, mit jungen Erwach­se­nen in Kontakt zu kommen und in Kontakt zu blei­ben, da diese einen ziem­lich vollen Alltag und die verschie­dens­ten Inter­es­sen haben», sagt die 52-Jährige. Daher sei in Zusam­men­ar­beit mit der Kirch­ge­mein­de Gaiser­wald und der Fach­stel­le kirch­li­che Jugend­ar­beit DAJU die Idee mit den Führun­gen entstan­den. «Über span­nen­de Themen rund ums Open Air wollen wir mit den jungen Erwach­se­nen ins Gespräch kommen und zeigen, dass es uns gibt und dass sie mit allen Anlie­gen auch zu uns kommen können», sagt sie.

Fürein­an­der einstehen

Span­nend wird es alle­mal. Nach so vielen Jahren Enga­ge­ment am Open Air kann Tanja Mäder aus dem Nähkäst­chen erzäh­len, etwa von den Sonder­wün­schen eini­ger Bands. So soll­ten einmal alle M&M’s einer bestimm­ten Farbe aussor­tiert werden, weil diese einem Musi­ker nicht schmeck­ten. Nebst span­nen­den Fakten rund ums Open Air möch­te Tanja Mäder auch Werte vermit­teln. Es sind Werte, die ihr gera­de als kirch­li­che Jugend­ar­bei­te­rin beson­ders wich­tig sind. Dazu gehö­ren fürein­an­der da sein und einste­hen sowie der Zusam­men­halt als Gemein­schaft. «Das beein­druckt mich auch am Open Air immer wieder. Die Stim­mung ist eigent­lich sehr fried­lich und wenn etwas passiert, beob­ach­te ich vor allem bei jungen Menschen, wie gross die gegen­sei­ti­ge Unter­stüt­zung ist», sagt sie. Als Eltern mache man sich natür­lich Sorgen. Aber wer seinen Kindern durch die Erzie­hung gute Werte mit auf den Weg gege­ben habe, der müsse auch loslas­sen und die Kinder eige­ne Erfah­run­gen machen lassen können. Den Jugend­li­chen rät sie, mit guten Freun­den in der Grup­pe unter­wegs zu sein sowie sich bei Problemen an das Care Team oder die Sani­tä­te­rin­nen und Sani­tä­ter zu wenden.

Dersel­be Kern

Vor 39 Jahren besuch­te Tanja Mäder erst­mals selbst das Open Air St. Gallen. In all diesen Jahren habe sich das Open Air stark verän­dert. «Es ist von einem Dorf zu einer Stadt gewach­sen, mit einem Super­markt, Bazar-Ständen und verschie­de­nen Bühnen. Zudem ist alles profes­sio­nel­ler orga­ni­siert», sagt sie und fügt an: «Aber der Kern, die Stim­mung und dass die Menschen und vor allem die jungen Menschen gemein­sam etwas Schö­nes erle­ben wollen, ist nach wie vor gleich.»

«Das Open Air St. Gallen ist wie eine klei­ne Stadt, in der alles zusam­men­kommt, nur konzen­trier­ter als sonst im Alltag. Gera­de für Jugend­li­che, die viel­leicht zum ersten Mal an ein Open Air gehen, ist das ein beson­de­res Erleb­nis», sagt Sandra Köst­li. Die 36-Jährige leitet seit diesem Jahr das Care Team des Festi­vals. Die 27 Ehren­amt­li­chen des Care Teams helfen Perso­nen, die in eine Krise gera­ten – an einem Festi­val­tag im Schnitt fünf Mal.

Aufein­an­der achten

Sandra Köst­li ist seit 2016 mit dabei. «Verän­dert hat sich in dieser Zeit vor allem, dass das Thema Aware­ness immer wich­ti­ger wurde. Die Festi­val­be­su­che­rin­nen und ‑besu­cher sind sensi­bi­li­sier­ter dafür, wie wich­tig es ist, aufein­an­der zu achten und zu helfen, wenn jemand auf Unter­stüt­zung ange­wie­sen ist», sagt sie. Beein­druckt sei sie beispiels­wei­se immer wieder davon, wie gut gera­de junge Erwach­se­ne und Jugend­li­che als Grup­pe auf die Einzel­nen aufpas­sen würden, wenn es diesen nicht gut geht.

Dem Alltag entfliehen

Neue Musik entde­cken, verschie­de­nes Essen auspro­bie­ren, neue Leute kennen­ler­nen und Teil der Open-Air-Gemeinschaft sein: All das bringt laut Köst­li viele Chan­cen und schö­ne Erleb­nis­se gera­de auch für Jugend­li­che mit sich. «Ausser­dem können sie einmal dem Alltag mit all seinen Struk­tu­ren entflie­hen und vier Tage Ausnah­me­zu­stand erle­ben», sagt sie. Das brin­ge aller­dings auch Heraus­for­dern­des mit sich: Viel­leicht gerät man in eine unan­ge­neh­me Situa­ti­on, mit der man nicht umge­hen kann. Man könn­te Gewalt erle­ben, zu viel getrun­ken haben oder es könn­te ein Unfall gesche­hen. Vor eini­gen Jahren brach in einem Stroh­la­ger beispiels­wei­se ein Brand aus. Es gab zwar keine Verletz­ten, aber Perso­nen, die alles verlo­ren, was sie dabei hatten. «Immer dann, wenn Perso­nen in Not sind, aber keine körper­li­che Gefahr besteht, kommen wir vom Care Team ins Spiel», sagt Sandra Köst­li, die sozia­le Arbeit studiert hat. «Wir schau­en, was die Betrof­fe­nen brau­chen. Ob sie zum Beispiel nach Hause gehen oder am Festi­val blei­ben möch­ten oder ob wir allen­falls den Kontakt zur Opfer­hil­fe herstel­len sollen.»

Sich auf Freun­de verlassen

Das Care Team hat am Open Air einen Contai­ner, ist aber auch auf dem Gelän­de unter­wegs. «Gera­de die Jugend­li­chen und jungen Erwach­se­nen begeg­nen uns sehr offen und inter­es­siert», sagt sie und fügt an: «Ich denke, dass die Themen ‹Aware­ness› und ‹Aufmerk­sam sein› durch die Sensi­bi­li­sie­rungs­ar­beit des Open Airs bei der heuti­gen Jugend stär­ker veran­kert ist als früher.» Tipps, die Sandra Köst­li jungen Menschen mit auf den Weg gibt, die zum ersten Mal ein Festi­val besu­chen, sind: Mit Perso­nen zusam­men hinge­hen, auf die man sich verlas­sen kann. «Und wenn man merkt, dass einem vier Tage Menschen­mas­se, Hitze oder Kälte sowie der Lärm zu viel sind, soll man einfach einmal eine Pause einle­gen. Man könn­te viel­leicht kurz heim­ge­hen und dann ausge­ruht ans Festi­val zurückkommen.»

Text: Nina Rudnicki

Bilder: Ana Kontou­lis / zVg. 

Veröf­fent­li­chung: 23.5.2024

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