Am 12. September 2023 präsentiert ein Forschungsteam des Historischen Seminars der Universität Zürich eine Vorstudie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche seit den 1950er-Jahren. Wie sehen Betroffene und das Bistum St. Gallen dieser Studie entgegen?
Vreni Peterer aus Appenzell, Präsidentin der Interessengemeinschaft der Missbrauchsbetroffenen im kirchlichen Umfeld (IG MiKU) und selbst Betroffene, sieht dem 12. September 2023 mit grosser Spannung und Hoffnung entgegen. «Ich bin sehr gespannt, wo wir nach einem Jahr stehen und wie viel die Pilot-Studie schon zu Tage bringt», sagt sie gegenüber dem Pfarreiforum, «ich bin auch gespannt darauf, wie die Betroffenen im Fokus stehen.» Sie selbst habe die Möglichkeit gehabt, ihre eigenen Akten beim Bistum St. Gallen anzuschauen und sei sich deshalb bewusst, was für ein riesiger Aufwand die Studie sei. «Ich erhoffe mir, dass das Forschungsteam am 12. September viele Ratschläge aufzeigt: Wie soll es jetzt weitergehen? Was braucht es, um die sexuelle Gewalt aufzuarbeiten? Wir erhielten durchwegs positive Rückmeldungen von Betroffenen, die von empathischen und kompetenten Mitarbeitenden des Forschungsteams angehört wurden.» Auch Vreni Peterer selbst habe die Gespräche, die das Forschungsteam mit ihr geführt habe, so erlebt. «Bemerkenswert ist auch, dass einige Betroffene, die Teil der Studie sind, zum allerersten Mal über ihre Erfahrungen gesprochen haben.»
Basis für künftige Forschung
Die Studie wurde von der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (der Zusammenschluss der kantonalkirchlichen Organisationen, zu dem auch der Kath. Konfessionsteil des Kantons St. Gallen gehört) und der Konferenz der Ordensgemeinschaften in Auftrag gegeben. Die Forschung arbeitete unabhängig von den Auftraggebern und beschäftigte sich mit allen Bistümern in der Schweiz. Sie soll eine Basis schaffen für die künftige Forschung zur sexualisierter Gewalt, die katholische Kleriker, kirchliche Angestellte und Ordensangehörige seit Mitte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz ausgeübt haben. Was die Ergebnisse für die einzelnen Bistümer bedeuten, wird erst am 12. September bekannt. «Auch für uns ist das zum jetzigen Zeitpunkt noch völlig offen», sagt Sabine Rüthemann, Kommunikationsbeauftragte des Bistums St. Gallen. «Wir erachten es als äusserst wichtig, dass diese Aufarbeitung stattfindet und begrüssen diese Studie sehr.» Das Bistum St. Gallen setzt sich seit zwanzig Jahren mit der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen und der Prävention auseinander. 2002 wurde im Auftrag des damaligen Bischofs Ivo Fürer ein Fachgremium installiert – im Fachgremium waren von Beginn an bewusst auch nichtkirchliche Fachpersonen, beispielsweise wird aktuell das Gremium von der Juristin Daniela Sieber präsidiert. «Das Bistum hat von den Erfahrungen der Betroffenen gelernt», hält Sabine Rüthemann fest. Deshalb gebe es seit diesem Jahr neben dem Schutzgremium neu mit Pater Martin Werlen und Elisabeth Fink-Schneider auch zwei Ansprechpersonen für geistlichen Missbrauch.
Anlaufstelle für Betroffene
Schon bevor die Ergebnisse präsentiert werden, steht fest: Die Arbeit wird fortgesetzt, SBK, RKZ und KOVOS haben grünes Licht für ein dreijähriges Folgeprojekt 2024–2026 gegeben. Vreni Peterer: «Es ist ein Schritt in die richtige Richtung und ein Zeichen dafür, dass die Verantwortungsträger die Notwendigkeit erkannt haben, aufzudecken, wieviel Leid kirchliche Mitarbeitende verursacht haben.» Trotzdem sieht Vreni Peterer noch viel Handlungsbedarf: «Wir fordern die Schaffung einer unabhängigen Anlaufstelle für Betroffene und haben das bereits bei einem Treffen mit dem für die Studie zuständigen Bischof Joseph Maria Bonnemain deponiert. Wir hoffen sehr, dass sich am 12. September Betroffene an kompetente Ansprechpersonen wenden können.» Sie persönlich habe es nicht befremdet, sich damals an das Fachgremium des Bistums St. Gallen zu wenden. «Doch für Betroffene, die keinen Bezug mehr zur Kirche haben, ist es ein No-Go, die brauchen eine nicht-kirchliche Anlaufstelle.» Sie betont, dass Betroffene sich auch an die IG MiKU wenden können. Es gebe inzwischen in der Ostschweiz auch eine Selbsthilfegruppe für Menschen, die sexuelle Gewalt im kirchlichen Umfeld erfahren haben.
Text: Stephan Sigg
Bild: zVg.
Veröffentlicht: 21.08.2023
Online
Im Online-Dossier finden Sie Artikel, die in den letzten Jahren im Pfarreiforum zu sexueller Gewalt im kirchlichen Umfeld erschienen sind, die Ergebnisse der Studie (ab 12. September), Einordnungen, Hintergrundartikel sowie Kontaktadressen des Fachgremiums bzw. der Ansprechpersonen im Bistum St. Gallen.