Eine Insel im Ausnahmezustand

Beschau­lich zeigt sich die Insel Reichen­au auf den ersten Blick. Mit der 1300-jährigen Kloster­geschichte hat sie aber eine Vergan­gen­heit, die das benach­bar­te St. Gallen zwischen­zeit­lich neidisch werden lässt. Das Jubi­lä­um ist Anlass für eine klei­ne Insel­tour des Pfarreiforums.

Dieses Jahr ist der Wahn­sinn. So etwas habe ich kaum erlebt. Und ich mache das schon seit 30 Jahren», sagt Brigit­te Ott-Penzkofer, die an diesem Tag in die Schatz­kam­mer im Müns­ter St. Maria und Markus auf der Insel Reichen­au führt. Gegen 60 Perso­nen drän­gen sich vor dem Eingang um die Gäste­füh­re­rin. Gleich wird sie mit den Besu­che­rin­nen und Besu­chern in die Geschich­te des Klos­ters eintau­chen und die Schatz­kam­mer besich­ti­gen. Diese enthält unter ande­rem wert­vol­le Reli­qui­en­schrei­ne wie jenen aus dem Jahr 1305, der Gebei­ne des Evan­ge­lis­ten Markus enthält. «Diesel­be Führung habe ich auch schon mit nur vier bis fünf Perso­nen gemacht», sagt Brigit­te Ott-Penzkofer. In diesem Jahr, in dem die Insel ihr 1300-Jahr-Jubiläum feiert, befin­de sich aber alles im Ausnah­me­zu­stand. Wich­tig ist das Jubi­lä­um, weil der später heilig­ge­spro­che­ne Wander­bi­schof Pirmi­ni­us im Jahr 724 das Klos­ter Reichen­au grün­de­te – und danach auf der Insel so viele histo­risch bedeu­ten­de Dinge gescha­hen, dass man als Nicht­his­to­ri­ke­rin und ‑histo­ri­ker vor Über­ra­schung nur stau­nen kann (siehe Zeitachse).

Split­ter vom Kreuz Christi

Die Recherche-Tour des Pfar­rei­fo­rums fällt nicht auf einen belie­bi­gen Tag im Jubi­lä­ums­jahr, sondern auf den Frei­tag vor dem Wochen­en­de des Heilig-Blut-Fests Ende Mai. Das ist der höchs­te Feier­tag der Insel. Bei der Reichen­au­er Heilig-Blut-Reliquie handelt es sich um ein vergol­de­tes byzan­ti­ni­sches Abts­kreuz, das der Über­lie­fe­rung nach Split­ter vom Kreuz Chris­ti und ein blut­ge­tränk­tes Tuch enthal­ten soll. Die Insel ist heraus­ge­putzt: Gelb-weisse Bänder schmü­cken den Chor­raum im Klos­ter, die Heil­kräu­ter­bee­te sind gepflegt und auf der ganzen Insel sind die Cafés und klei­nen Läden liebe­voll deko­riert. Auch die Gäste­lis­te für das Heilig-Blut-Fest steht fest: Der St. Galler Bischof Markus Büchel wird aus histo­ri­scher Verbun­den­heit als Ehren­gast die Fest­pre­digt im Müns­ter halten. Mit Bildern, Text und einem kurzen Film­bei­trag doku­men­tiert ist das etwa durch den mitt­ler­wei­le erschie­nen SWR-Beitrag «Insel Reichen­au feiert das Heilig-Blut-Fest», in dem Bischof Markus während der Predigt oder der Prozes­si­on zu sehen ist, bei der die Heilig-Blut-Reliquie über die Insel getra­gen wird. 

In Vergan­ge­nes eintauchen

Wie war das noch mal mit Reichen­au und St. Gallen? Auf der Insel stehen weite­re Führun­gen wie jene zur Klos­ter­ge­schich­te zur Auswahl, die etwa darauf eingeht, wie in Reichen­au der berühm­te St. Galler Klos­ter­plan entstan­den ist. Eine ande­re Möglich­keit ist es, sich mit einem der zahl­rei­chen über die Insel Reichen­au erschie­ne­nen Sach­bü­cher oder Krimis auszu­rüs­ten und so in die Vergan­gen­heit der Insel einzu­tau­chen. Wir entschei­den uns für das neus­te Buch «Reichen­au – Insel der Geheim­nis­se», das Erzäh­lun­gen verschie­de­ner Best­stel­ler­au­torin­nen histo­ri­scher Roma­ne enthält. Mit dem Velo geht es entlang der gut ausge­schil­der­ten Velo­rou­te hinauf zur Hoch­wacht, einem Aussichts­punkt, von dem aus sich die 4,5 Kilo­me­ter lange und 1,5 Kilo­me­ter brei­te Insel über­bli­cken lässt. Auf der Hoch­wacht gibt es ein Café, gros­se, Schat­ten spen­den­de Bäume und Sitz­bän­ke. Dort fällt die Wahl auf die Erzäh­lung «Morcheln im Winter und der sehr gros­se Fisch» , die in das Jahr 956 nach Chris­tus führt. Es ist die Zeit, in der Reichen­au eines der wich­tigs­ten Klös­ter des Mittel­al­ters und Zentrum der Buch­ma­le­rei war. Die Reichen­au­er Biblio­thek gehör­te damals zu den gröss­ten im Heili­gen Römi­schen Reich, Schreib­werk­statt und Klos­ter­schu­le waren berühmt. Die Haupt­per­son der Erzäh­lung, Benno, hat nun das Glück, als Knabe in das Klos­ter Reichen­au aufge­nom­men zu werden. Dank seines Talents für die Schreib­kunst und Buch­ma­le­rei darf er später als junger Mann wich­ti­ge Hand­schrif­ten und Bücher kopie­ren. Eines Tages beauf­tragt ihn der Abt, eines der kopier­ten Bücher in das Klos­ter St. Gallen zu brin­gen. Mit dem dort ansäs­si­gen Mönch Notker gerät Benno nach seiner Ankunft in einen Wett­streit darüber, welche Biblio­thek die schö­ne­ren Bücher enthält und welches Klos­ter das bedeu­ten­de­re sei. Nach eini­gen Krügen Bier behaup­tet Notker, dass im St. Galler Klos­ter­gar­ten sogar im Winter Morcheln wach­sen würden. Benno wieder­um erzählt von den gros­sen «Atlant­fi­schen» im Boden­see um die Insel Reichen­au herum, die so lang seien wie zwei Männer.

Durch Sonnen­licht erstrahlt

Was wohl zum Nieder­gang des Klos­ters Reichen­au und dessen Auflö­sung im 1757 führ­te? Und konn­te das Klos­ter tatsäch­lich einzig durch den Streit zwei­er Äbte auf nur zwei Mönche schrump­fen? Auch dazu gäbe es im Buch histo­ri­sche Erzäh­lun­gen oder wahl­wei­se Bilder, Ausstel­lungs­tex­te und Tonauf­nah­men in der extra fürs Jubi­lä­um lancier­ten kosten­lo­sen App «Reichen­au». Diese enthält Infor­ma­tio­nen zu allem, was man über die Insel wissen muss. Die Gedan­ken kehren aber zurück zur Führung durchs Müns­ter von Brigit­te Ott-Penzkofer. Sie erzählt, wie der Kaiser jeweils im West­flü­gel im Müns­ter auf einer Empo­re hinter dem Markus­al­tar Platz genom­men habe und dort durch das Sonnen­licht erstrahl­te, das durch die Fens­ter fiel. «Da waren alle geblen­det», sagt sie mit einem Augen­zwin­kern. Zum Schluss folgt der Besuch der Schatz­kam­mer mit ihren Kunst­wer­ken und Reli­qui­en­schrei­nen. Diese gehö­re zusam­men mit dem Klos­ter­gar­ten und dem klos­ter­ge­schicht­li­chen Teil des Muse­ums Reichen­au im Bereich Einrich­tun­gen zu den Haupt­an­zie­hungs­punk­ten, sagt Karl Wehr­le, Touris­mus­chef von Reichen­au, auf Anfra­ge. Die Insel Reichen­au verzeich­net 250 000 Über­nach­tun­gen pro Jahr. Die Tages­gäs­te werden auf 750 000 bis 1 000 000 jähr­lich geschätzt. Wie viele es im Jubi­lä­ums­jahr sein werden, könne nur gefühlt geschätzt werden. Aber es bestehe der Eindruck, dass es mehr seien als sonst, sagt Wehr­le. Schul­ter an Schul­ter stehen die Besu­che­rin­nen und Besu­cher in der klei­nen Schatz­kam­mer, die früher als Sakris­tei dien­te. Was mehr beein­druckt, ist schwer zu sagen: Die detail­liert gefer­tig­ten Schrei­ne und Kunst­wer­ke selbst oder die zahl­rei­chen Geschich­ten und Über­lie­fe­run­gen, die jeder einzel­ne Schatz birgt.

Text und Bilder: Nina Rudnicki

Veröf­fent­li­chung: 21. Juni 2024

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