Lasst uns spielen!

Lange Zeit hafte­te Brett- und Gesell­schafts­spie­len ein verstaub­tes Image an. Aber ausge­rech­net in unse­ren digi­ta­len Zeiten sind analo­ge Spie­le beliebt wie nie zuvor. Das kann auch Anita Sonder­eg­ger bezeu­gen. Die Primar­leh­re­rin und fünf­fa­che Gross­mutter ist Wäch­te­rin über 900 Spiel­sa­chen der Ludo­thek Heiden. Warum sind Spie­le wieder so gefragt?

Während draus­sen der Wind Schnee­flo­cken an die Fens­ter peitscht, ist in der Ludo­thek in Heiden ein Wett­lauf zwischen Gut und Böse entfacht. Anita Sonder­eg­ger führt ihre beiden Enkel­kin­der Lari­na und Vale­rio sowie deren Gspän­li Mila und Lio in die Geheim­nis­se des «Zauber­bergs» ein. Bei diesem Gesell­schafts­spiel werden mit Hilfe von Irrlich­tern (alias bunte Glas­mur­meln) die Zauber­lehr­lin­ge des Magi­ers Baldu­in durch den geheim­nis­vol­len Wald gelotst. Aber auch die gemei­nen Hexen folgen den Spuren der Irrlich­ter und ein Wett­lauf ins Tal des Zauber­bergs beginnt. Anita Sonder­eg­ger geniesst diese Momen­te des gemein­sa­men Spie­lens sehr. «Schon als Schul­mäd­chen lieb­te ich Knobel­spie­le oder wenn wir als Fami­lie um die Monopoly-Schlossallee feilschten.»

Anita Sonder­eg­ger lieb­te schon als Schul­kind Knobelspiele.


Von 200 auf 900 Arti­kel
In den Rega­len der Ludo­thek Heiden, die im Unter­ge­schoss der Asyl­turn­hal­le ihre Heimat gefun­den hat, findet sich weit mehr als die Klas­si­ker wie Spiel des Lebens, Scrabb­le, Tabu oder Trivi­al Pursu­it. «Als wir 1992 beschlos­sen eine Ludo­thek zu eröff­nen, star­te­ten wir mit 200 Spiel­sa­chen», erin­nert sich Anita Sonder­eg­ger. Mitt­ler­wei­le ist das Sorti­ment auf rund 900 Arti­kel ange­wach­sen. Am Mitt­woch­nach­mit­tag und frei­tags von 17 bis 19 Uhr können hier Kinder mit ihren Eltern oder Gross­el­tern aus der bunten Welt der ange­sag­tes­ten Gesell­schafts­spie­le ihre Favo­ri­ten wählen. Dane­ben gibt es aber auch Playmobil-Sets, gros­se Holz­spiel­sa­chen, Chüge­li­bah­nen, Spiel­trak­to­ren und ‑Last­wa­gen oder Fahr­zeu­ge wie Kick­boards, Racer oder Lauf­rä­der in verschie­de­nen Grössen.


Mitar­bei­ter gesucht
Die Ludo­thek Heiden ist im Appen­zel­ler Vorder­land die Einzi­ge ihrer Art. Hier leihen deshalb auch junge Fami­li­en aus den umlie­gen­den Gemein­den regel­mäs­sig Spiel­sa­chen aus. Durch­schnitt­lich regis­triert Anita Sonder­eg­ger jähr­lich rund 600 bis 700 Auslei­hen. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie sind diese Zahlen einge­bro­chen. «Wir muss­ten in den vergan­ge­nen zwei Jahren aufgrund der Mass­nah­men immer mal wieder unse­re Türen schlies­sen. Ausge­rech­net in der Zeit, in der spie­le­ri­sche Auflo­cke­rung und Ablen­kung beson­ders gefragt gewe­sen wäre», bedau­ert die 60-Jährige. Die Ludo­thek Heiden ist keine eigen­stän­di­ge Orga­ni­sa­ti­on, sondern den «Hääd­ler Frau­en» ange­glie­dert. Diese wieder­um wurden 2017 aus den beiden ehema­li­gen katho­li­schen und evan­ge­li­schen Frau­en­ver­ei­nen gegrün­det. Die Gemein­de Heiden unter­stützt die Ludo­thek, indem sie die Raum­mie­te über­nimmt und einen Beitrag für Neuan­schaf­fun­gen leis­tet. Auch die katho­li­sche und die evan­ge­li­sche Kirch­ge­mein­de im Dorf unter­stüt­zen die Ludo mit Beiträ­gen. Hinzu kommen die umlie­gen­den Dörfer Grub, Wald und Wolf­hal­den, die sich eben­falls betei­li­gen sowie priva­te Gönner und acht Unter­neh­men. «Im Gegen­satz zu vielen ande­ren Ludo-theken stehen wir auf einem soli­den finan­zi­el­len Funda­ment. Was uns fehlt, sind Frei­wil­li­ge, die uns bei der Auslei­he unter­stüt­zen», betont Anita Sonderegger.


Leihen statt Kaufen
Die Ludo­thek will auch Fami­li­en mit gerin­gem Einkom­men den Zugang zu attrak­ti­ven Spiel­sa­chen ermög­li­chen. So wird in Heiden keine Jahres­ge­bühr verlangt, sondern nur das bezahlt, was effek­tiv ausge­lie­hen wird. Mit farbi­gen Punk­ten sind die verschie­de­nen Preis­ka­te­go­rien von einem bis zehn Fran­ken gekenn­zeich­net. «Wir finden, dass man die Sachen teilen kann und nicht jede Fami­lie alles selber kaufen muss. Dieser Nach­hal­tig­keits­ge­dan­ke ist uns wich­tig. Dies­be­züg­lich hat in den vergan­ge­nen Jahren bei vielen jungen Eltern ein Umden­ken statt­ge­fun­den», stellt Anita Sonder­eg­ger fest. Zudem achten sie und ihr Team bei Anschaf­fun­gen darauf, dass möglichst weni­ge davon batte­rie­be­trie­ben sind. «Das schont nicht nur die Umwelt, sondern auch die oftmals reiz­über­flu­te­ten Köpfe der Kinder und Eltern.»

Viele der Spie­le funk­tio­nie­ren ohne Batterien.


Stra­te­gi­sches Denken und Gesel­lig­keit
Inspi­ra­ti­on für neue Spie­le bekommt Anita Sonder­eg­ger aus verschie­de­nen Kanä­len. So tragen klei­ne Ludo-Kunden Wünsche an sie heran, welche in der Werbung ange­prie­sen wurden. Einmal im Jahr stellt das Spiel­wa­ren­ge­schäft «Zubi» in Rorschach den umlie­gen­den Ludo-Teams die Neuerschei­nun­gen vor. «Dieser Tag ist für eine Spiel­be­geis­ter­te wie mich wie Weih­nach­ten und Ostern zusam­men», sagt Anita Sonder­eg­ger mit einem Strah­len im Gesicht. Unter diesen Neuhei­ten ist jeweils immer das «Spiel des Jahres». Dieser Jury­preis wird seit 1979 jeden Sommer in drei Kate­go­rien für analo­ge Gesell­schafts­spie­le im deutsch­spra­chi­gen Raum verge­ben. 2021 sind dies «Paleo» (Kenner­spiel des Jahres), «Drago­mi­no» (Kinder­spiel des Jahres) und «Micro­Macro: Crime City» (Spiel des Jahres). Letz­te­res und ande­re Spiel­neu­hei­ten hat Anita Sonder­eg­ger zusam­men mit den Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mern des Ludo-Spielabends ausgie­big getes­tet. Der Spiel­abend findet jeden zwei­ten Diens­tag­abend im Monat im Restau­rant Linde in Heiden statt. Dabei tref­fen sich erwach­se­ne Spiel­freu­di­ge zu einer Runde Brän­di Dog oder sind gespannt, welche Neuhei­ten der Kassier der Ludo­thek, Walter Graf, mitbringt. «An diesen Aben­den wird das zele­briert, was mir am Spie­len so gefällt: Die Gemein­schaft wird gepflegt, wir sind in unse­rem stra­te­gi­schen und takti­schen Denken gefor­dert und versu­chen, die Spiel­zü­ge der Mitspie­ler zu erah­nen», schil­dert Anita Sonder­eg­ger. Hat dieses jahr­zehn­te­lan­ge, regel­mäs­si­ge Spie­len aus ihr eine gute Verlie­re­rin gemacht? «Nicht wirk­lich», gibt sie unum­wun­den zu. «Ich gera­te jeweils in einen solchen Feuer­ei­fer, dass ich komplett im Moment versin­ken kann. Wenn es dann nicht wunsch­ge­mäss läuft, ärgert mich das auch heute noch. Dieses Gefühl ist aber schnell verflo­gen und ich sehne dann bereits die nächs­te Spiel­run­de herbei.»

Warum boomen Brett­spie­le?
Bereits vor über 4000 Jahren würfel­ten Menschen um die Wette, spiel­ten mit Bohnen auf geschnitz­ten Hölzern und verspiel­ten Hab und Gut. Manche Wissen­schaft­ler vermu­ten erste Versio­nen sogar schon vor 9000 Jahren, als Jäger und Samm­ler sess­haft wurden. Bei den Vorläu­fern der Brett­spie­le wurden die Felder in den Sand oder auf Holz gemalt. Vor allem soge­nann­te Wett­lauf­spie­le waren 4500 v. Chr. beliebt und ­wurden auf dem Gebiet der heuti­gen Staa­ten Ägyp­ten, Saudi-Arabien und Irak gespielt. Die Würfel waren häufig aus Gelenk­kno­chen von ­Scha­fen oder Ziegen. Das könig­li­che Spiel von Ur ist eines der ältes­ten bekann­ten Spie­le. Es wurde bei Ausgra­bun­gen in der meso­po­ta­mi­schen Stadt Ur gefun­den und wird auf circa 2600 v. Chr. datiert. Die ursprüng­li­chen Regeln sind nicht mehr bekannt.

Sieges­zug der koope­ra­ti­ven Spie­le
Spie­le sind ein Fens­ter in die Vergan­gen­heit. Sie erzäh­len immer ­etwas von der Gesell­schaft, in der sie erfun­den und gespielt wurden. So dreht sich beim Schach alles um einen König, der so gut wie ­bewe­gungs­un­fä­hig ist. Doch wenn er fällt, geht sein ganzes König­reich mit ihm unter. «Eile mit Weile» ist ein Nach­fol­ger eines alten ­indi­schen Spiels und erzählt von Ster­ben und Wieder­ge­burt und schliess­lich vom Eintritt in den Himmel – das retten­de Haus, in dem am Ende alle Spiel­stei­ne stehen soll­ten. «Mono­po­ly» steht bis in die 1980er Jahre hinein für den ­unre­gu­lier­ten Kapi­ta­lis­mus. Eine neue Ära läute­ten «Die Sied­ler von Catan» ein. Das Gesell­schafts­spiel ­wurde 1995 vom deut­schen Zahn­technikermeister Klaus Teuber ­entwi­ckelt. Neu an dieser Spiele-Art ist vor allem die stra­te­gi­sche ­Tiefe. Der Spie­ler tauscht Erz gegen Lehm und Holz, um damit ­Stras­sen und Sied­lun­gen zu bauen, die wieder­um neue Quel­len für mehr Erz erschlies­sen. Bei «Catan» wird nicht zerstört, ­sondern ­aufge­baut. Die Spie­ler kämp­fen nicht direkt gegen­ein­an­der, sondern um densel­ben Ressour­cen­pool. Bis heute wurde das ehema­li­ge «Spiel des Jahres» in mehr als 40 Spra­chen über­setzt und über 28 ­Millio­nen Mal verkauft, womit es hinter Mono­po­ly das zweit­erfolgreichste Spiel der Welt ist. Spätes­tens die Wahl zum «Spiel des Jahres 2021» hat es bewie­sen: Koope­ra­ti­ve Spie­le wie «Micro­Macro: Crime City» werden immer belieb­ter. Alle spie­len zusam­men gegen das Brett. Man verliert oder gewinnt gemein­sam. Wett­be­werb wird ersetzt durch stra­te­gi­sche Team­auf­ga­ben und durch Kommu­ni­ka­ti­on. Es ist verblüf­fend: Im digi­ta­len Zeit­al­ter sind Brett­spie­le so beliebt wie nie zuvor. Doch weshalb?

Spie­len ist ein wich­ti­ges Trai­ning für das mensch­li­che Miteinander.

Spie­le­ri­sches Lernen
Ein Faktor unse­rer wach­sen­den analo­gen Spiel­freu­de könn­te der ­digi­ta­le Über­fluss sein. Wir sehnen uns nach hapti­schen Erleb­nis­sen und ­direk­tem Augen­kon­takt. Spie­le­for­scher vermu­ten zudem, dass wir gera­de in unste­ten Zeiten die Verläss­lich­keit des Spiels mögen. Da steht in der Anlei­tung klipp und klar, was zu tun ist, damit man vom Erfolg gekrönt wird. Spie­le retten uns aus einer konfu­sen Welt und schi­cken uns in eine über­sicht­li­che Ideal­si­tua­ti­on. Zu erwäh­nen ist natür­lich auch unser tief veran­ker­ter Spiel­trieb. Der Neuro­wis­sen­schaft­ler Jaak ­Panksepp veror­te­te diesen Spiel­trieb unter ande­rem im Hirn­stamm des Menschen, im ältes­ten Teil des Gehirns, der auch bei Atmung, Schlaf und ­Bewusst­sein eine zentra­le Rolle spielt. Kriti­ker könn­ten dem entge­gen­hal­ten, dass Menschen massen­haft von der kost­ba­ren Ressour­ce Zeit ­vergeu­den, nur um einer schein­bar zweck­frei­en Tätig­keit zu frönen. Wäre Spie­len aber tatsäch­lich so über­flüssig, hätte die Evolu­ti­on uns den Spiel­trieb vermut­lich längst ­abge­wöhnt. Hat sie aber nicht. Weil wir im Spiel lernen. Spie­len macht uns krea­ti­ver und produk­ti­ver. Wir inter­pre­tie­ren Gesten, ­Gefühls­äus­se­run­gen, Verhal­tens­wei­sen, über­neh­men ande­re Perspek­ti­ven und üben Selbst­dis­zi­plin. Auch wenn wir inner­lich explo­die­ren möch­ten, können sich die meis­ten von uns auch dann noch beherr­schen, wenn die gegne­ri­sche Mann­schaft beim Brän­di Dog längst alle Murmeln im Ziel hat. Weshalb wir trotz­dem gerne spie­len? Weil Spiel nichts muss, aber alles kann. Und Spie­len ist ein wich­ti­ges Trai­ning für das mensch­li­che Miteinander. 

Website Ludo­thek Heiden

27. Dezem­ber 2021 Rosa­lie Manser

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