News

«Ich komme ­gerne auf den Friedhof»

Der Fried­hof hat für Mari­an­ne Diet­rich aus Gossau eine ­gros­se Bedeu­tung. Er half ihr, den Verlust ihres Mannes besser zu ertra­gen. Für die 82-Jährige ist er aber mehr als nur Ort der Trau­er und der Erin­ne­run­gen. Am Grab lässt sie auch fröh­li­che Momen­te zu.

Der Herbst hat Einzug gehal­ten. Die Blät­ter an den Bäumen erstrah­len in bunten Farben und die Bise weht steif. Mari­an­ne Diet­rich schrei­tet lang­sam, aber ziel­ge­rich­tet den brei­ten Weg entlang. Es ist ein Weg, den sie gut kennt. Sie ist ihn schon unzäh­li­ge Male gegan­gen. Mari­an­ne Diet­rich hat vor fünf Jahren ihren Mann verlo­ren. René Diet­rich war 77 Jahre alt, als er einen Hirn­schlag erlitt. Es folg­ten Spital­auf­ent­hal­te und Thera­pien. Zuletzt wohn­te René Diet­rich im Pfle­ge­heim Vita Tertia in Gossau. Seit seinem Tod besucht Mari­an­ne Diet­rich das Grab ihres gelieb­ten Mannes regel­mäs­sig. «Ich komme gerne hier­her», sagt die 82-Jährige. «Es tut mir gut.» Man merkt: Der Fried­hof­be­such bedeu­tet Mari­an­ne Diet­rich viel. «Hier tref­fe ich immer Menschen und kann einen Schwatz halten.» Das Wissen, dass es ande­ren ähnlich gehe, könne in der Trau­er helfen. «Plötz­lich merkt man, dass man nicht allei­ne ist.»

Mari­an­ne Diet­rich (rechts) ist auf dem Fried­hof selten allei­ne. Beim Besuch Ende Septem­ber beglei­tet sie Jacque­line Boll­hal­der vom Trauercafé.

Den rich­ti­gen Platz gefunden

Mari­an­ne Diet­rich grüsst Bekann­te hier und winkt Freun­den dort. Immer wieder bleibt sie kurz stehen und schaut auf Grab­stei­ne. Und immer wieder sieht sie darauf ihr bekann­te Namen. Mit fort­schrei­ten­dem Alter werden es immer mehr. Ein Umstand, den Mari­an­ne Diet­rich akzep­tie­ren muss. Ihr Ehemann hat seine letz­te Ruhe­stät­te im Gemein­schafts­grab auf dem Fried­hof Hofegg in Gossau gefun­den. Auf dem gros­sen, acht­tei­li­gen Monu­ment sind auf goldig-schimmernden Plaket­ten die Namen der Verstor­be­nen vermerkt. Mari­an­ne Diet­rich läuft um den Grab­stein herum. An der Rück­sei­te – ganz oben – steht der Name ihres verstor­be­nen Mannes. Sie tritt an den Stein heran und schaut hoch. Der Grab­stein liegt an diesem Nach­mit­tag halb im Schat­ten. «Hier hat er den rich­ti­gen Platz gefun­den. Er moch­te Schat­ten sehr gerne. Ich mag lieber Sonnen­schein», sagt Mari­an­ne Diet­rich mit einem Lächeln im Gesicht. Die Erin­ne­run­gen an ihren Mann sind allge­gen­wär­tig. Und auch wenn man ihr die Trau­er bei jedem Wort ansieht, kann sie mitt­ler­wei­le wieder fröh­li­che Momen­te zulas­sen. «An einem Grab darf man auch lachen», sagt sie. 

Mari­an­ne Diet­rich ist sehr wich­tig, dass der Name ­ihres verstor­be­nen Mannes irgend­wo vermerkt ist.

Mari­an­ne Diet­rich erin­nert sich gerne an die 54 gemein­sa­men Jahre zurück. «Wir hatten es gut mitein­an­der und ein so schö­nes Leben.» Dass sie noch den golde­nen Hoch­zeits­tag feiern konn­ten, bedeu­tet ihr sehr viel. Sie spricht über die Kinder, über die Hobbys ihres Mannes, über gemein­sa­me Ausflü­ge – und der Ort, an dem Mari­an­ne Diet­rich noch kurz zuvor fröh­lich war, wird plötz­lich zum Ort, an dem Tränen ihre Wangen herun­ter­kul­lern. Der Abschied wiegt noch immer schwer. «Ich vermis­se ihn jeden Tag.»

Trau­er­ca­fé als Fixpunkt

Auf dem Fried­hofs­be­such wird Mari­an­ne Diet­rich oft von zwei Freun­din­nen beglei­tet. Wenn Toch­ter Karin zu Besuch ist, gehört auch für sie der Gang ans Grab des Vaters zur Pflicht. An diesem sonni­gen Tag Ende Septem­ber ist Mari­an­ne Diet­rich mit Jacque­line Boll­hal­der, katho­li­sche Seel­sor­ge­rin in Gossau und Leite­rin des ökume­ni­schen Trau­er­ca­fés, auf dem Fried­hof. Die beiden kennen sich gut. Seit dem Tod des Mannes ist das monat­li­che Tref­fen ein Fixpunkt in Diet­richs Agen­da. Einmal wöchent­lich nimmt sie am Mittag­essen im Fried­egg teil und einmal im Monat besucht sie den Senio­ren­nach­mit­tag der Pfar­rei. «Das tut mir gut», sagt Mari­an­ne Diet­rich. «Ich kann hier mit Mitmen­schen spre­chen. Wir alle haben das Glei­che erlebt. Und es sind alles liebe Menschen.» 

Nach dem Tod ihres Mannes half das Trau­er­ca­fé der katho­li­schen und refor­mier­ten Kirche Mari­an­ne Diet­rich aus dem Tief. Noch heute ist das monat­li­che Tref­fen mit ande­ren Betrof­fe­nen und Seel­sor­ge­rin Jacque­line Boll­hal­der für sie ein Fixpunkt.

Auch Jacque­line Boll­hal­der schätzt Mari­an­ne Diet­rich. «Sie sorgt sich sehr um die ande­ren im Trau­er­ca­fé, spielt Fahre­rin und ist ein Sonnen­schein», so Boll­hal­der. Die beiden Frau­en verbin­det mitt­ler­wei­le mehr als nur eine Zweck­ge­mein­schaft. Man inter­es­siert sich fürein­an­der und sorgt sich umein­an­der. Jacque­line Boll­hal­der weiss aus Erfah­rung, wie wich­tig für Betrof­fe­ne der Fried­hof als Ort der Trau­er und Erin­ne­rung ist. «Viele Betrof­fe­ne besu­chen die Gräber nach einem Verlust jeden Tag. Das gibt ihnen eine Struk­tur», sagt Boll­hal­der. «Auf dem Fried­hof muss man mit nieman­dem reden und weiss gleich­zei­tig, dass alle dort das Glei­che erlebt haben. Das Wissen, dass ande­re diese Situa­ti­on auch durch­ma­chen, hilft vielen. Zudem wollen sie die Erin­ne­rung an diese Perso­nen erhalten.»

Begeg­nun­gen wichtig

Am Grab setzt sich Mari­an­ne Diet­rich gerne auf die bereit­ge­stell­ten Stüh­le. Oft spricht sie zu ihrem Mann, erzählt ihm, was sie erlebt hat oder was sie beschäf­tigt. Schlimm seien am Anfang vor allem die Wochen­en­den gewe­sen. Dann, wenn nicht viel läuft und sie Zeit hatte, ihren Gedan­ken frei­en Lauf zu lassen. «Ich hatte sehr viele Krisen», sagt Diet­rich. «Gera­de die Mona­te nach dem Tod waren der Fried­hof und die Begeg­nun­gen dort für mich sehr wich­tig.» Der Verlust eines gelieb­ten Menschen lasse einen in ein Loch fallen. «Nichts ist mehr, wie es war.» Sie habe sich anstren­gen müssen, wieder am Leben teil­zu­neh­men, nach draus­sen zu gehen, nicht zu vereinsamen. 

Mari­an­ne Diet­rich setzt sich gerne an das Grab ihres verstor­be­nen Mannes und spricht mit ihm.

Der Fried­hof und die Gesprä­che dort halfen ihr dabei. Irgend­wann begann sie wieder mehr, unter die Leute zu gehen. «Ich woll­te nicht versau­ern.» Mari­an­ne Diet­rich ist dank­bar, dass sie noch so rüstig ist, ein gutes Umfeld und viele nette Freun­din­nen und Freun­de hat. Aber es gibt auch immer wieder schwie­ri­ge Zeiten. Etwa, als sie sich vor zwei Mona­ten operie­ren lassen muss­te. «In solchen Zeiten vermis­se ich meinen Mann noch mehr.»

Räumung war «schreck­lich»

Gerne würde sie beim Grab öfter das bereit­ge­stell­te Weih­was­ser nutzen und die Plaket­te damit bepin­seln – «damit er auch merkt, dass ich da war.» Die Plaket­te hängt aller­dings zu hoch. Mari­an­ne Diet­rich kann sie nicht errei­chen. Heute über­nimmt das ihre Beglei­te­rin Jacque­line Boll­hal­der. «Ich bepins­le dann halt statt­des­sen manch­mal Plaket­ten von Freun­den», sagt Diet­rich. Früher habe sie jeweils noch eine Kerze ans Grab mitge­nom­men. «Aber das habe ich aufge­ge­ben. Wegen des Windes erlö­schen die immer wieder.» 

Mit dem Weih­was­ser bepin­selt Mari­an­ne Diet­rich oft ­Plaket­ten von verstor­be­nen Freun­den oder Bekannten.

Dann wird Mari­an­ne Diet­richs Stim­me leiser. Sie wirkt nach­denk­lich. Man habe sie einmal gefragt, ob sie an die Aufer­ste­hung glau­be. «Ich bin sicher, dass er es schön hat im Himmel», sagt sie. Mari­an­ne Diet­rich muss­te bereits einmal einen schwe­ren Schick­sals­schlag verkraf­ten. 1990 verstarb ihr Sohn im Alter von 22 Jahren. Seine Ruhe­stät­te fand er eben­falls auf dem Fried­hof Hofegg. Auch damals waren die Fried­hof­be­su­che ein Trost für Mari­an­ne Diet­rich und sie kann sich noch gut an den Tag erin­nern, als das Grab nach 25 Jahren geräumt wurde. «Das war schreck­lich für mich.»

Grab­pfle­ge ausschlaggebend

Die Entschei­dung für das Gemein­schafts­grab hat Mari­an­ne Diet­rich mit ihrem Mann gefällt. Ein Einzel­grab kam für sie nicht in Frage. «Wer soll­te denn für das Grab schau­en, wenn auch ich nicht mehr da bin?», fragt sie rheto­risch. Die Toch­ter wohne leider zu weit weg. So müsse sich niemand um das Grab kümmern und die Ruhe­stät­te sehe immer schön aus. «Wich­tig ist für mich einfach, dass sein Name dasteht und ich einen Ort habe, an den ich kommen kann, um ihm nahe zu sein.» 

Blumen beim Gemein­schafts­grab auf dem Fried­hof Hofegg in Gossau.

Auch sie selbst wird dereinst im Gemein­schafts­grab auf dem Fried­hof Hofegg beer­digt werden. Sie schaut aber­mals hoch zur Plaket­te ihres Mannes. Links und rechts dane­ben sind viele weite­re Namen vermerkt. Jacque­line Boll­hal­der spricht den Umstand an, dass heute eini­ge Menschen die Asche verstreu­en. Sie selbst sehe das eher schwie­rig, aber man dürfe nicht urtei­len. «Die Trau­er­ar­beit ist so indi­vi­du­ell und persön­lich. Jeder muss das selbst für sich wissen.»

Erin­ne­run­gen bleiben

Die Besu­che von Mari­an­ne Diet­rich auf dem Fried­hof wurden im Laufe der Jahre weni­ger. Früher war sie noch täglich am Grab ihres Mannes. Heute geht sie einmal wöchent­lich. Die Erin­ne­run­gen an ihre Liebs­ten und die Trau­er sind geblie­ben. Zuhau­se hat Mari­an­ne Diet­rich einen klei­nen Altar errich­tet. Darauf eine Schüs­sel mit frischen Blumen und die Namen des Sohnes und des Ehemanns auf hand­ge­schrie­be­nen Zetteln. Jeden Abend zündet Mari­an­ne Diet­rich im Geden­ken an sie eine Kerze an.

Text: Ales­sia Paga­ni
Bilder: Regi­na Kühne
Veröf­fent­li­chung: 22. Okto­ber 2023

«Es ist erschreckend und beschämend»

Der Bischof des Bistums St. Gallen hat am 13. Septem­ber zur Medi­en­kon­fe­renz in den Saal der Bischofs­woh­nung gela­den. «Es ist erschre­ckend und beschä­mend, was heraus­ge­kom­men ist», sagt Bischof Markus Büchel vor einer Schar Medi­en­schaf­fen­den über die Pilot-Studie – die Kame­ras auf ihn gerich­tet, die Mikro­fo­ne vor ihm auf dem Tisch.

Bischof Markus Büchel stellt sich den Fragen der Medi­en­schaf­fen­den – einen Tag nach­dem die schweiz­wei­te Pilot-Studie der Univer­si­tät Zürich über sexu­el­len Miss­brauch in der katho­li­schen Kirche publik gewor­den ist. «Ich fühle gros­sen Schmerz und werde alles daran­set­zen, dass die beschlos­se­nen Mass­nah­men grei­fen», sagt Bischof Markus Büchel. Die Studie brach­te erschre­cken­de Zahlen zum Vorschein. Zwischen 1950 und heute gab es schweiz­weit 1002 Fälle sexu­el­len Miss­brauchs in der katho­li­schen Kirche.

Fehler gemacht

Die Studie attes­tiert dem Bistum St. Gallen eine profes­sio­nel­le Führung des Archivs und eine voll­um­fäng­li­che Unter­stüt­zung durch den Archi­var. Die Archi­vie­rung der Akten des Fach­gre­mi­ums seien gar vorbild­haft. Die Studie zeigt aber auch zwei Fälle aus dem Bistum St. Gallen. Bischof Markus Büchel wirkt ange­spannt, als er am ovalen Tisch Auskunft gibt und den Anwe­sen­den Red und Antwort steht. «Ich habe Fehler gemacht. Einen gros­sen Fehler», sagt er mit gebro­che­ner Stim­me. «Dazu muss ich stehen.» Durch sein Verhal­ten seien Fälle baga­tel­li­siert und einer Vertu­schung Vorschub geleis­tet worden. «Das tut mir leid. Ich möch­te daraus lernen.» Bischof Ivo Fürer, Büchels Vorgän­ger, unter­liess es – so die Studie – trotz Hinwei­sen, einen beschul­dig­ten Pries­ter aus dem Bistum St. Gallen zu melden bezie­hungs­wei­se mit Konse­quen­zen zu bele­gen. Büchel seiner­seits wird in der Studie vorge­wor­fen, nicht konse­quent genug gehan­delt zu haben.

Anders handeln

Bei seinem Amts­an­tritt habe er keine offe­nen Fälle über­ge­ben bekom­men, erklärt Büchel am Medi­en­ge­spräch. «Ich bin davon ausge­gan­gen, dass der Fall abge­schlos­sen ist.» Er habe es unter­las­sen, die Vorab­klä­run­gen durch Bischof Ivo Fürer erneut zu prüfen und zu handeln. «Es war der einzi­ge Fall, der mir vom Fach­gre­mi­um gemel­det wurde, den ich aber nicht ange­gan­gen bin.» Der Fall war seiner­zeit einer der ersten, den das 2002 von Bischof Ivo Fürer gegrün­de­te Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe behan­del­te. Seinen Vorgän­ger nimmt Markus Büchel teil­wei­se in Schutz. «Er nahm die Sache ernst und hat mit dem Beschul­dig­ten Gesprä­che geführt. Aber es gab eine Befan­gen­heit.» Zudem bestehe die Pflicht, solche Fälle in Rom zu melden, erst seit 2019. Büchel zeigt sich einsich­tig: «Ich hätte inten­si­ver handeln müssen. Heute hätte ich anders gehandelt.»

Mass­nah­men getroffen

Bei Miss­brauchs­fäl­len muss heute seitens der Kirche Straf­an­zei­ge bei der Poli­zei einge­reicht werden. Am Medi­en­ge­spräch sagt Bischof Markus Büchel, er wisse noch nicht, wer der Beschul­dig­te sei. Die Studie sei stark anony­mi­siert worden – auch zum Schutz der Betrof­fe­nen. Nur kurze Zeit später räumt das Bistum auf noch­ma­li­ge Nach­fra­ge ein: «Der betref­fen­de Pries­ter arbei­tet defi­ni­tiv nicht mehr in der Seel­sor­ge.» Wie Bischof Markus Büchel an der Pres­se­kon­fe­renz mitteilt, ist eine Vorun­ter­su­chung einge­lei­tet und eine Straf­an­zei­ge bei der Staats­an­walt­schaft einge­reicht worden. Er hoffe, dass nun Licht ins Dunkel und eine Rück­mel­dung aus Rom komme, so Büchel. Die Verant­wort­li­chen verwei­sen auf das laufen­de Verfah­ren, weite­re Auskünf­te sind deshalb nicht möglich. Für den Beschul­dig­ten gilt die Unschulds­ver­mu­tung. Ein Jour­na­list stellt die Frage nach den persön­li­chen Konse­quen­zen für den St. Galler Bischof: Tritt er von seinem Amt zurück? Bischof Markus Büchel verneint, das sei vorerst noch kein Thema. Er wolle zuerst die Ergeb­nis­se der Vorun­ter­su­chung abwar­ten. «Wenn Rom meinen Rück­tritt fordert, werde ich zurücktreten.»

Aufde­cken und aufarbeiten

Wie Bischof Markus Büchel ausführt, wird die Rolle des Bistums St. Gallen im Bezug auf die Zusam­men­ar­beit mit dem Fach­gre­mi­um noch kriti­scher über­prüft. «Es ist beispiels­wei­se nicht rich­tig, wenn das Fach­gre­mi­um nur Bera­tungs­funk­ti­on hat.» Alle beschlos­se­nen Mass­nah­men (siehe Kasten) sollen auch im Bistum St.Gallen umge­setzt werden. Dieses verpflich­tet sich, die für die Umset­zung der Mass­nah­men nöti­gen Ressour­cen bereit­zu­stel­len. Der Bischof setze sich für «ein scho­nungs­lo­ses Aufde­cken und Aufar­bei­ten des sexu­el­len Miss­brauchs im Bistum St. Gallen» ein.

«Ich glau­be dem Bischof»

An der Pres­se­kon­fe­renz ist auch Vreni Pete­rer anwe­send. Die 62-Jährige ist Präsi­den­tin der Inter­es­sen­ge­mein­schaft für Miss­brauchs­be­trof­fe­ne im kirch­li­chen Umfeld (IG-MikU) und selbst Betrof­fe­ne. Aufmerk­sam lauscht sie den Ausfüh­run­gen des St. Galler Bischofs. «Ich nehme ihm die Entschul­di­gung ab und glau­be dem Bischof, wenn er sagt, es täte ihm leid», sagt Pete­rer nach dem Medi­en­ge­spräch auf Nach­fra­ge. «Ja, er hat einen gros­sen Fehler gemacht. Ich denke jedoch, dass er nicht wirk­lich vorsätz­lich vertuscht hat. Er hat aber im entschei­den­den Moment nicht rich­tig gehan­delt bezie­hungs­wei­se nicht hinge­schaut und nicht gehan­delt.» Enttäuscht und scho­ckiert ist sie vom Vorge­hen von Bischof Ivo Fürer, der das Fach­gre­mi­um mehr­mals vertrös­tet habe. «Im Nach­hin­ein wirkt sein dama­li­ger Auftrag zur Grün­dung des Fach­gre­mi­ums auf mich wie eine Alibi­übung.» Wie sie zuvor am Medi­en­ge­spräch ausführt, habe sie in ihrer Funk­ti­on mehr­mals von Betrof­fe­nen gehört, dass deren Glaub­wür­dig­keit in Frage gestellt wurde. «Das darf nicht sein. Wich­tig ist, dass den Betrof­fe­nen geglaubt wird.» Sie erwar­te nun die nöti­ge Profes­sio­na­li­tät der Verant­wor­tungs­trä­ger. «Diese müssen den Mut haben, Fehler einzu­ge­ste­hen und sich und ihr Verhal­ten zu korrigieren.»

Forde­rung der IG-MikU

Vreni Pete­rer begrüsst die Mass­nah­men des Bistums. «Jede Mass­nah­me bringt uns einen Schritt weiter und hilft, die Schwel­le für weite­re Miss­bräu­che höher zu legen.» Dennoch hofft sie, dass noch weite­re Anstren­gun­gen seitens der Katho­li­schen Kirche unter­nom­men werden. Die IG-Miku fordert, dass die Bevöl­ke­rung nun nicht allei­ne gelas­sen wird. Gemeint sind all jene Menschen, die nicht unmit­tel­bar betrof­fen, aber dennoch verun­si­chert und ergrif­fen sind. «Es tun sich nun Fragen auf wie: Wem kann ich über­haupt noch vertrau­en? Diese Menschen müssen aufge­fan­gen werden.» Denk­bar wären etwa Infor­ma­ti­ons­aben­de. Pete­rer sieht auch die Pfar­rei­en in der Pflicht. «Die Ange­bo­te sollen auch von der Basis kommen.» 

Konkre­te Massnahmen

Bischof Joseph Maria Bonn­emain, der bei der Medi­en­kon­fe­renz in Zürich die Bischofs­kon­fe­renz vertrat, kündig­te konkre­te Mass­nah­men an. Unter ande­rem sollen für Betrof­fe­ne schweiz­weit profes­sio­nel­le Ange­bo­te geschaf­fen werden, bei denen sie Miss­bräu­che melden können. Künf­ti­ge Pries­ter, stän­di­ge Diako­ne, Mitglie­der von Ordens­ge­mein­schaf­ten und weite­re Seel­sor­gen­de sollen im Rahmen ihrer Ausbil­dung stan­dar­di­sier­te psycho­lo­gi­sche Abklä­run­gen durch­lau­fen. In einer schrift­li­chen Selbst­ver­pflich­tung erklä­ren alle kirch­li­chen Verant­wort­li­chen an der Spit­ze von Bistü­mern, Landes­kir­chen und Ordens­ge­mein­schaf­ten, keine Akten mehr zu vernich­ten, die im Zusam­men­hang mit Miss­brauchs­fäl­len stehen oder den Umgang damit doku­men­tie­ren. Die Studie wird im Janu­ar 2024 mit einem vier­jäh­ri­gen Folge­pro­jekt fortgesetzt.

Text: Ales­sia Paga­ni / Stephan Sigg

Foto: Regi­na Kühne

Veröf­fent­licht: 14.09.2023

Zeit­zeu­gen gesucht

Die Forsche­rin­nen und Forscher bieten eine öffent­li­che Ring­vor­le­sung an der Univer­si­tät Zürich an (Start: 28. Septem­ber). Ausser­dem rufen sie Zeit­zeu­gin­nen und Zeit­zeu­gen auf, sich für die weite­re Forschung zu melden: forschung-missbrauch@hist.uzh.ch

Anlauf­stel­len für Betrof­fe­ne von sexu­el­len Miss­brauch im kirch­li­chen Umfeld:

www.missbrauch-kath-info.ch

www.ig-gegen-missbrauch-kirche.ch

Infor­ma­tio­nen und Kontakt­adres­sen Fach­gre­mi­um des Bistum St.Gallen

«Zu den Fehlern stehen, die ich gemacht habe»

«So schmerz­haft es sein mag, wir müssen uns den Tatsa­chen stel­len», schreibt Bischof Markus Büchel in einem offe­nen Brief an alle Mitar­bei­ten­de in der Seel­sor­ge sowie frei­wil­lig und ehren­amt­lich Enga­gier­te weni­ge Tage nach Präsen­ta­ti­on der Pilot-Studie zum sexu­el­len Miss­brauch — das Pfar­rei­fo­rum konn­te Auszü­ge aus dem Brief vorab lesen. Der Bischof zeigt sich in seinem Brief selbst­kri­tisch: «Ich ganz persön­lich muss zu den Fehlern stehen, die ich gemacht habe.» Ihm sei «sehr bewusst, dass durch jeden einzel­nen Fall von sexu­el­lem Miss­brauch Menschen in ihrem Leben und Glau­ben verun­si­chert und teil­wei­se aus der Bahn gewor­fen werden.»

Perspek­ti­ven­wech­sel

Wie beim Medi­en­ge­spräch in St. Gallen betont der St. Galler Bischof auch in seinem Brief, «der Respekt vor den Opfern gebie­tet es, sich mit den Ergeb­nis­sen der Studie zu befas­sen», es brau­che einen Perspek­ti­ven­wech­sel. Was er darun­ter versteht und wie das genau gesche­hen soll, führt er nicht aus. Er zählt noch­mals alle Mass­nah­men auf, die die Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz beschlos­sen hat und weist darauf hin, dass sie entschlos­sen seien, «in den Themen der Macht­fra­gen, der Sexu­al­mo­ral, des Priester- und Frau­en­bil­des wie der Ausbil­dung und Perso­nal­aus­wahl konkre­te Schrit­te zu unter­neh­men, die auch in der Studie einge­for­dert werden».

Die Fälle im Bistum St. Gallen

In die Studie wurden zwei Fälle, die das Bistum St. Gallen betref­fen, aufge­nom­men: Idda­heim in Lütis­burg (Studie, S. 69 bis 71): Beschrie­ben sind Meldun­gen zahl­rei­cher Fälle psychi­scher, physi­scher und sexu­el­ler Gewalt unter ande­rem im Zeit­raum zwischen 1978 und 1988, durch einen der Direk­to­ren, ein Pries­ter aus dem Bistum St. Gallen. Weiter beschreibt die Studie Berich­te von sexu­el­len Über­grif­fen und Gewalt durch einen Erzie­her und einen Gärt­ner (zwischen 1964 bis 1971) sowie durch Menzin­ger Schwes­tern. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. Das heuti­ge Kinder­dörf­li Lütis­burg ist seit vielen Jahren nicht mehr unter kirch­li­cher Führung.

Der Fall E.M. (Pseud­onym, S. 96 bis 100): Im Jahr 2002, als das Fach­gre­mi­um erst­mals einge­setzt wurde, melde­te eine Frau länger zurück­lie­gen­de Über­grif­fe des Pries­ters E.M.. Es fanden Gesprä­che mit dem Beschul­dig­ten und Ivo Fürer, dem dama­li­gen Bischof, statt. Da E.M. die gegen ihn erho­be­nen Vorwür­fe bestritt und sich die Anschul­di­gun­gen nicht erhär­te­ten, schie­nen sich diese zu entkräf­ten. Weni­ge Wochen später gab es weite­re Hinwei­se durch eine ehema­li­ge Heim­mit­ar­bei­te­rin, worauf das Fach­gre­mi­um Empfeh­lun­gen an Bischof Fürer aussprach. Das Fach­gre­mi­um stell­te zudem klar, dass es nicht Unter­su­chungs­be­hör­de sein kann. Trotz eindeu­ti­ger Empfeh­lun­gen durch das Fach­gre­mi­um St. Gallen und jenes der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz (SBK) unter­nahm der dama­li­ge Bischof keine weite­ren Schrit­te; E.M. erhielt eine weite­re Stel­le. Bis 2009 war er zusätz­lich in einer Funk­ti­on im Bistum ange­stellt. Im April 2010 feier­te E.M. zusam­men mit dem neuen Bischof Markus Büchel eine Messe. Dies führ­te bei einer betrof­fe­nen Person zu einer hefti­gen emotio­na­len Reak­ti­on, worauf sie sich beim Fach­gre­mi­um melde­te. 2012 wurde E.M. zwar versetzt, aber trotz­dem in verschie­de­nen Gemein­den als Seel­sor­ger einge­setzt. Noch im Janu­ar 2023 sind gemäss Studie Eucha­ris­tie­fei­ern mit E.M. fest­ge­hal­ten. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. (Bistum St.Gallen / ssi)

Hinter­grund: Dossier mit allen Infor­ma­tio­nen zur Pilot-Studie und den bishe­ri­gen Mass­nah­men im Bistum St.Gallen

«Es braucht mehr Menschen, die Fragen stellen»

Dialog mit Chris­ten und Musli­men? Das wäre für den St. Galler Rabbi­ner Shlo­mo Tikoch­in­ski in der Kind­heit undenk­bar gewe­sen: Er wuchs auf in einer ultra­or­tho­do­xen Fami­lie in Isra­el, doch im Studi­um beschäf­tig­te er sich mit dem Chris­ten­tum und dem Islam. Seit einem Jahr ist er Rabbi­ner der Jüdi­schen Gemein­de St. Gallen.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski und Roland Rich­ter, ehema­li­ger Präsi­dent der Jüdi­schen Gemein­de, begrüs­sen herz­lich und neugie­rig, wir tref­fen uns im hellen Saal der Jüdi­schen Gemein­de im 1. Stock neben der Synago­ge am Roten Platz direkt neben der Raiff­ei­sen­bank. Kaum hat die Foto­gra­fin ihr Equip­ment aufge­baut, ist man mitten im Gespräch. Der Rabbi­ner spricht flies­send Deutsch, lässt aber immer wieder hebräi­sche und engli­sche Wörter einflies­sen – die er jeweils flink mit der Über­set­zungs­app auf seinem ­Handy übersetzt.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski, Sie ­besu­chen ab und zu inko­gni­to Gottes­diens­te der katho­li­schen oder refor­mier­ten ­Kirche. Warum?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Weil ich ein sehr neugie­ri­ger Mensch bin. Mich inter­es­siert es, wie die Gläu­bi­gen der ande­ren Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ihren Glau­ben feiern. Nur, inko­gni­to ist inzwi­schen kaum mehr möglich: In den vergan­ge­nen Mona­ten durf­te ich bereits an vielen inter­re­li­giö­sen Anläs­sen oder Anläs­sen der Stadt teil­neh­men und deshalb kenne ich inzwi­schen viele Pfar­re­rin­nen und Pfar­rer persönlich.

Wie leicht ist Ihnen das ­Ankom­men in St. Gallen gefallen?

Shlo­mo Tikochinski: Sowohl die Begeg­nun­gen mit der Jüdi­schen Gemein­de, aber auch mit allen ande­ren Menschen in der Stadt waren von Anfang von Herz­lich­keit und Offen­heit geprägt. Vorher war ich Rabbi­ner in Dres­den, hier ist es weni­ger anonym, alle sind viel freund­li­cher. Die Jüdi­sche Gemein­de mit 120 Mitglie­dern ist klein, aber wir haben ein akti­ves Glaubens- und Gemein­de­le­ben mit vielen Anlässen.

Roland Rich­ter: Für uns ist Rabbi­ner Shlo­mo ein Geschenk. Wir sind zwar eine klei­ne Gemein­de, aber viele sind offen für Expe­ri­men­te. Erfreu­li­cher­wei­se konn­ten wir unse­ren Vorstand verjün­gen: Eine jünge­re Gene­ra­ti­on ist dabei, die Verant­wor­tung für die Gemein­de zu übernehmen.

Wie wich­tig ist der Inter­re­li­giö­se Dialog für Sie? Was tun Sie?

Shlo­mo Tikochinski: Inter­re­li­giö­ser Dialog beginnt für mich im Alltag, bei ganz alltäg­li­chen Begeg­nun­gen. Wenn zum Beispiel eine Zahn­ärz­tin, die in der Nähe unse­rer Synago­ge arbei­tet, mich plötz­lich auf der Stras­se fragt: Darf ich mal die Synago­ge anschau­en? Wir bieten aber auch zahl­rei­che Führun­gen für Schul­klas­sen an und ich nehme an Gesprächs­run­den teil. Es gibt fast jede Woche einen Termin.

Wie offen ist die Ostschweiz gegen­über ande­ren Religionen?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich nehme eine Offen­heit von den Vertre­te­rin­nen und Vertre­tern der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten wahr – das ist in Isra­el und selbst in Deutsch­land anders. Eindrück­li­che Beispie­le sind für mich der inter­re­li­giö­se Gottes­dienst am 1. August oder das gemein­sa­me Feiern am Bettag. Trotz­dem darf man etwas Zentra­les nicht verges­sen: Ob der inter­re­li­giö­se Dialog gelingt und sich Menschen verschie­de­ner Reli­gio­nen begeg­nen, ist nicht von solch beson­de­ren Veran­stal­tun­gen abhän­gig. Natür­lich braucht es den Austausch und gemein­sa­me Aktio­nen der offi­zi­el­len Vertre­ter der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, Insti­tu­tio­nen wie das «Haus der Reli­gio­nen» in Bern oder das «House of One» in Berlin sind wich­tig. Aber inter­re­li­giö­ser Dialog, der sich auf die Religions-Profis beschränkt, ist keine beson­de­re Leis­tung. Es geht darum, dass alle Gläu­bi­gen Teil davon sind.

Die St.Galler Synago­ge ist mitten in der Stadt zu finden, am Roten Platz.

Wie stel­len Sie sich das ­konkret vor?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich wünsche mir, dass man sich voller Neugier begeg­net und keine Angst hat, dem ande­ren Fragen zu stel­len. Deshalb ist es für mich viel bemer­kens­wer­ter, wenn mir jemand mitten im Alltag voller Offen­heit und Neugier begeg­net, Fragen stellt oder seine eige­nen Vorur­tei­le hinter­fragt. Es braucht mehr Menschen, die Fragen stel­len. Egal zu welcher Reli­gi­on ich gehö­re: Vorur­tei­le haben wir alle. Wir hören heute oft die offi­zi­el­len Vertre­ter der Reli­gio­nen über ihren Glau­ben spre­chen. Es braucht genau­so die ganz norma­len Menschen, die von ihrem eige­nen Glau­ben erzäh­len. Damit würde auch sicht­bar: Den Chris­ten, den Musli­men, den Juden gibt es nicht … Auch inner­halb jeder Reli­gi­ons­ge­mein­schaft gibt es so viele unter­schied­li­che Prägun­gen. Ande­ren vom Glau­ben erzäh­len, das ist sogar ein fester Teil des jüdi­schen Glau­bens: Es ist ein Wunsch Gottes – wir nennen es Kidusch Haschem: Gott gefällt es.

Herr Rich­ter, Sie sind schon viele Jahre Teil der Jüdi­schen Gemein­de in St. Gallen, wie ­erle­ben Sie das Mitein­an­der der Religionen?

Roland Rich­ter: Die Jüdi­sche Gemein­de spürt seit vielen Jahr­zehn­ten eine Begeg­nung auf Augen­hö­he. Ich erin­ne­re mich an ein Beispiel in den 1990er-Jahren: Damals grün­de­ten die Landes­kir­chen die Offe­ne Kirche St. Gallen. Der refor­mier­te Pfar­rer Chris­toph Sigrist, einer der Initi­an­ten dieses Projek­tes, frag­te mich an, ob ich im Vorstand mitwir­ken möch­te. Die öffentlich-rechtliche Aner­ken­nung 1993 durch den St. Galler Kantons­rat war für uns ein wich­ti­ger Schritt. Bis dahin waren wir als Verein orga­ni­siert, mit der Aner­ken­nung wurden wir den Landes­kir­chen gleich­ge­stellt. Das trug dazu bei, dass uns die Kirchen und der Staat auf Augen­hö­he begeg­nen. Heute profi­tie­ren wir sehr vom Schul­fach ERG. Viele Klas­sen behan­deln da die Welt­re­li­gio­nen und lernen das Juden­tum kennen.

Tun die Ostschwei­zer Schu­len genug für die Bildung in Sachen Religionen?

Shlo­mo Tikochinski: Die Nach­fra­ge nach Führun­gen in unse­rer Synago­ge ist gross. Viele Schul­klas­sen, die uns besu­chen, haben sich in einer «Woche der Reli­gio­nen» oder einem «Monat der Reli­gio­nen» mit dem Juden­tum beschäf­tigt. Ich spüre von den Kindern und Jugend­li­chen oft eine gros­se Neugier. Es werden viele Fragen gestellt.

Roland Rich­ter: Auch die ida-Woche jetzt im Septem­ber ist eine gute Platt­form. Das Wissen über die Reli­gio­nen ist eine wich­ti­ge Grund­la­ge für den inter­re­li­giö­sen Austausch: Nur wer den ande­ren ein biss­chen kennt, kann Fragen stel­len, die in die Tiefe gehen. Wenn mir der ande­re fremd ist und ich unsi­cher bin, was tabu ist oder was den ande­ren verletzt, dann bleibt es bei ober­fläch­li­chen Fragen. Wenn ich dem ande­ren begeg­nen möch­te, muss ich bereit sein, mich mit ihm zu beschäftigen.

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Heute ist es so einfach, sich über die Reli­gio­nen zu infor­mie­ren: Wenn ich heute etwas nicht weiss, kann ich ja googeln oder auf Wiki­pe­dia nachlesen.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski, haben Sie noch Kontakt zu Ihren Geschwistern?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich habe vor Kurzem einen meiner Brüder in Isra­el getrof­fen, er ist bis heute Teil der ultra­or­tho­do­xen Gemein­schaft. Als ich ihm erzählt habe, wie ich in St. Gallen mit Vertre­te­rin­nen und Vertre­tern der ande­ren Reli­gio­nen in Kontakt stehe und es auch gemein­sa­me Anläs­se gibt, hat er nur perplex gefragt: Warum tust du das? Für mich ist der inter­re­li­giö­se Dialog eine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Wir glau­ben ja alle an den glei­chen Gott. Viel­leicht lässt sich das mit einem Chor verglei­chen: Es gibt verschie­de­ne Stim­men, aber Gott braucht alle Stim­men, den alle zusam­men machen einen Chor aus.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski ist seit einem Jahr Rabbi­ner der Jüdi­schen Gemein­de St.Gallen.

Shlo­mo Tikochinski

Der promo­vier­te Histo­ri­ker Shlo­mo Tikoch­in­ski, gebo­ren 1966 in Jeru­sa­lem als zweit­äl­tes­tes Kind von elf Geschwis­tern, studier­te Geschich­te, Philo­so­phie und Theo­lo­gie – und dabei auch das Chris­ten­tum und den Islam. Er war Rabbi­ner in Jeru­sa­lem und von 2020 bis 2022 in Dres­den. Er lehr­te und forsch­te in verschie­de­nen akade­mi­schen Posi­tio­nen und hat mehre­re Bücher veröf­fent­licht. Neben seiner Tätig­keit in St. Gallen hat er weiter­hin einen Lehr­auf­trag in Jeru­sa­lem. Er hat vier Kinder und ist inzwi­schen vier­fa­cher Grossvater.

Roland Rich­ter

Roland Rich­ter wurde 1944 in eine jüdi­sche Fami­lie in St. Gallen hinein­ge­bo­ren. Nach dem Medi­zin­stu­di­um und der Ausbil­dung zum Fach­arzt für Geburts­hil­fe und Frau­en­heil­kun­de kam er 1985 zurück nach St. Gallen und grün­de­te seine eige­ne ärzt­li­che Praxis. 1987 – 2009 war er im Vorstand der Jüdi­schen Gemein­de St. Gallen, ab 1994 als Präsident.

Eine kanto­na­le Woche für den inter­re­li­giö­sen Dialog

Die «Inter­re­li­giö­se Dialog- und Akti­ons­wo­che ida» findet alle zwei Jahre statt, dieses Jahr vom 11. bis 17. Septem­ber. Einer der Höhe­punk­te ist die gemein­sa­me Bettags­fei­er auf dem Klos­ter­platz St. Gallen (Sonn­tag, 17. Septem­ber, 15.00 Uhr). Es laden ein: die christ­li­chen Kirchen sowie verschie­de­ne Religions- und Glau­bens­ge­mein­schaf­ten der Stadt und Regi­on St. Gallen. Die rumänisch-orthodoxe Pfarr­ge­mein­de wird bei dieser Feier die «St. Galler Erklä­rung» unter­zeich­nen. Die «St. Galler Erklä­rung für das Zusam­men­le­ben der Reli­gio­nen und den inter­re­li­giö­sen Dialog» ist das Herz­stück der ida. Seit 2005 haben zahl­rei­che Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten und auch Einzel­per­so­nen die Erklä­rung unter­schrie­ben: www.pfarreiforum.ch/stgallererklärung. In der ida-Woche gibt es zahl­rei­che Veran­stal­tun­gen im ganzen Kanton St. Gallen.

Text: Stephan Sigg

Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 23.08.2023

Das Recht auf Wind in den Haaren

Mit einer Velo-Rikscha und einem Team von 28 ehren­amt­li­chen Pilo­tin­nen und Pilo­ten ­ermög­licht der Rorscha­cher Paul Zünd Hoch­be­tag­ten Ausfahr­ten zu deren ­Lieb­lings­or­ten. Das Schöns­te daran sei, miter­le­ben zu können, wie seine Fahr­gäs­te aufblü­hen, sagt der ­Reli­gi­ons­päd­ago­ge. Seine Leiden­schaft für’s Velo­fah­ren entdeck­te er einst als Velokurier.

Zum Velo­fah­ren bin ich erst spät gekom­men», sagt Paul Zünd, der bei der Katho­li­schen Kirche der Regi­on Rorschach für das Ressort Erwach­se­ne zustän­dig ist. Im Schat­ten des Parks vor der Herz-Jesu-Kirche hat er seine Rikscha parkiert, mit der er regel­mäs­sig Senio­rin­nen und Senio­ren ausfährt. «Als 12-Jähriger habe ich zwar gear­bei­tet und mir von dem Geld ein Renn­ve­lo gekauft. Danach wurde ich aber erst mal ein rich­ti­ger Töff­libueb», sagt der 51-Jährige. Zum Velo­fah­ren brach­te ihn in seinen Zwan­zi­ger­jah­ren schliess­lich ein Freund, der vorschlug, dass sie beide doch Velo­ku­rie­re werden soll­ten. Später leite­te und baute er unter ande­rem den Velo­ku­rier Die Flie­ge in St. Gallen aus. «Das Gefühl, auf dem Velo mit der Umwelt und den Menschen verbun­den zu sein, faszi­niert mich bis heute. Es gibt keine Glas­schei­be dazwi­schen und ich bin in einer Geschwin­dig­keit unter­wegs, in der ich mich auf das Gesche­hen um mich herum einlas­sen kann», sagt er.

Ausfahrt zum Hochzeitstag

Dieses Gefühl, auszu­fah­ren, den Wind in den Haaren zu spüren, unter­wegs spon­tan Bekann­ten zu begeg­nen: Das sollen mittels der Rikscha auch die Fahr­gäs­te von Paul Zünd erle­ben. Vor vier Mona­ten hat er daher das Rikscha-Projekt gestar­tet und ein Team von 28 ehren­amt­li­chen Pilo­tin­nen und Pilo­ten zusammengestellt. 

An diesem Vormit­tag trifft er das Ehepaar Elfi und Peter Künz­le aus Rorschach. Die beiden sind um die 80 Jahre alt und eigent­lich selbst täglich auf dem Velo unter­wegs. Da die Katho­li­sche Kirche der Regi­on Rorschach aktu­ell auf ihrer Home­page mit neuen Fotos verschie­de­ne Projek­te vorstellt, haben sich die beiden bereit­erklärt, als Foto­mo­del­le bei einer Tour dabei zu sein. «Ausser­dem haben wir gera­de unse­ren 57. Hoch­zeits­tag gefei­ert. Wir fanden, aus diesem Anlass könn­ten wir uns gut auf etwas Neues wie eine Rikscha-Fahrt einlas­sen», sagt Elfi Künz­le. Sie fügt an, sie freue sich vor allem darauf, in der Natur zu sein und den Fahrt­wind zu spüren.

Teil des Glücks sein

Elfi und Peter Künz­le nehmen in der Rikscha Platz und befes­ti­gen den Anschnall­gurt. Paul Zünd steigt hinter ihnen auf den Sattel und tritt in die Peda­le. Maxi­mal 15 Kilo­me­ter pro Stun­de schnell wird er fahren. Ein elek­tri­scher Motor unter­stützt ihn dabei. Die Rikscha hat er über den Verein «Radeln ohne Alter Schweiz» gemie­tet. Elfi und Peter Künz­le sind in Rorschach gut vernetzt und haben viele Bekann­te. Schon nach weni­gen Metern wird klar, worin der Vorteil einer solchen Ausfahrt liegt: Ein Winken hier, ein paar Zuru­fe dort und immer wieder wird das Ehepaar von Bekann­ten auf dem Velo oder im Auto über­holt. «Miter­le­ben zu können, wie meine Fahr­gäs­te unter­wegs aufblü­hen, und Teil ihres Glücks zu sein, ist das Schöns­te für mich als Pilot», sagt Paul Zünd. In den Alters- und Pfle­ge­hei­men spre­che man bei dieser Art der Tages­ge­stal­tung von Aktivierung.

Die Rück­mel­dun­gen, die Paul Zünd und sein Team von den Betreuungs- und Pfle­ge­fach­per­so­nen erhal­ten, sind posi­tiv. Den Fahr­gäs­ten sei anzu­mer­ken, wie gut ihnen die Ausfahrt getan habe. Mitt­ler­wei­le machen das Senio­ren­zen­trum La Vita in Gold­ach, das Alters­heim Rorschach und das Haus zum Seeblick im Rorscha­cher­berg bei dem Projekt mit. Im Durch­schnitt 20 Buchun­gen für seine Rikscha-Ausflüge erhält Paul Zünd von diesen im Monat. Ein bis zwei Stun­den dauert eine Fahrt und führt zu Lieb­lings­or­ten der jewei­li­gen Fahr­gäs­te. «Eine Frau wünsch­te sich zum Beispiel einmal eine Tour zum Hotel Bad Horn, um dort am See etwas zu trin­ken», sagt Paul Zünd. Und ein Ehepaar woll­te noch einmal zu jenem Haus fahren, in dem es gelebt hatte. Manch­mal komme es aller­dings auch vor, dass ein Fahr­gast zu unru­hig sei oder aus verschie­de­nen Grün­den die Fahrt nicht genies­sen könne. «In solchen Situa­tio­nen kehre ich um und brin­ge die Person zurück», sagt er.

Eine eige­ne Rikscha kaufen

«Recht auf Wind im Haar», so hat Paul Zünd sein Rikscha-Projekt benannt. Erfun­den habe er diese Bezeich­nung aber nicht. Viel­mehr sei es ein welt­weit bekann­ter Spruch unter Rikscha­fah­re­rin­nen und ‑fahrern. Seit Anfang Juli ist auch klar, wie es mit dem Projekt weiter­geht. Das Pasto­ral­team hat sich einstim­mig für den Kauf einer Rikscha ausge­spro­chen und möch­te das Projekt nach den Sommer­fe­ri­en weiter­füh­ren. Nun liegt der Ball bei der Geschäfts­lei­tung und dem Kirchen­ver­wal­tungs­rat. Letz­te­rer muss für einen Kauf einen ausser­or­dent­li­chen Kredit sprechen.

Elfi und Peter Künz­le kehren derweil mit Paul Zünd an den Start­punkt zurück. Sie hatten Spass und Paul Zünd verspricht ihnen beim Abschied noch­mals eine rich­ti­ge Tour – ganz ohne Kame­ras. Er selbst wird sich am Abend auf sein Velo schwin­gen und nach Hause fahren. Ein Auto besitzt er nicht. «Auf dem Velo unter­wegs zu sein ist für mich der perfek­te Ausgleich», sagt er. «Mehr brau­che ich nicht.»

Text: Nina Rudni­cki
Bilder: Ana Kontou­lis
Veröf­fent­li­chung: 24. Juli 2023

Matthias Wenk ist neu am Lenker der mobilen Cityseelsorge.

«Die City ist unsere Kirche»

Um mit Passan­ten ins Gespräch zu kommen, ist Matthi­as Wenk (46) mit dem Cargo-Velo mit der Aufschrift «kost­Bar» in St. Gallen unter­wegs. Der katho­li­sche City­se­el­sor­ger erklärt, was an dieser Bar «ausge­schenkt» wird. 

Bei uns gibt es keinen Alltag. Wir orien­tie­ren uns an dem, was in der Stadt läuft. Wir sind mit unse­rem Velo an Brenn­punk­ten im öffent­li­chen Raum unter­wegs», sagt ­Matthi­as Wenk von der mobi­len City­se­el­sor­ge St. Gallen. Zudem sind sie an Märk­ten und Veran­stal­tun­gen präsent, etwa beim Willkommens-Anlass für Neuzu­zü­ger. Dort hat die City­se­el­sor­ge einen gemein­sa­men Stand mit der Refor­mier­ten Kirche. «Sich immer wieder auf neue Orte und neue Begeg­nun­gen einzu­las­sen, ist heraus­for­dernd», sagt der Theo­lo­ge und Sozi­al­ar­bei­ter. «Es ist aber auch immer wieder schön, an vorders­ter Front mit Menschen in Kontakt zu kommen.» Er über­nimmt die mobi­le City­se­el­sor­ge offi­zi­ell per 1. August. Punk­tu­ell hat er bereits Aufga­ben über­nom­men. Wenk ist kein Neuer: Er arbei­tet bereits seit 2018 im Teil­zeit­pen­sum für den Bereich «Spiri­tua­li­tät und neue Gottes­dienst­for­men» bei der City­se­el­sor­ge. Nun gibt er dieser Tage die Pfar­rei­lei­tung der ökume­ni­schen Gemein­de Halden ab und widmet sich künf­tig in einem 80-Prozent-Pensum der Cityseelsorge.

Wie entsteht ein Dialog?

Um mit Menschen ins Gespräch zu kommen, hat das Team verschie­de­ne nieder­schwel­li­ge Hilfs­mit­tel entwi­ckelt. «Es braucht einfa­che Anknüp­fungs­punk­te», weiss Wenk und zeigt seine alten Krüge, die er jeweils auf der Velo-Bar auftischt. Darin verste­cken sich verschie­de­ne Symbol­trä­ger wie beispiels­wei­se klei­ne Lego-Figuren oder eine Armband­uhr – der letz­te Krug beinhal­tet eine beson­ders berüh­ren­de Über­ra­schung, die hier nicht verra­ten werden soll. «Es geht darum, die Menschen zum Nach­den­ken anzu­re­gen und ihnen bewusst zu machen, was ihnen wich­tig und kost­bar erscheint», erklärt Wenk. Dabei kann ein unver­krampf­ter Dialog über Spiri­tua­li­tät entste­hen: «Setzt man man sich mit Lebens­fra­gen ausein­an­der, kommt der Glau­be auto­ma­tisch ins Spiel.» Und was brennt den Menschen in St. Gallen unter den Finger­nä­geln? «Das ist sehr indi­vi­du­ell, viele sind gespal­ten bei gesell­schaft­li­chen Themen, aktu­ell drehen sich die Gesprä­che oft um die Klima­si­tua­ti­on. Wir hören auch persön­li­che Geschich­ten, erfah­ren von Sorgen und Ängs­ten, die uns Menschen umtrei­ben oder auch von Notsi­tua­tio­nen.» Wenk betont, dass sie für alle Menschen da sein möch­ten. Einen spezi­el­len Fokus würden sie auf jene rich­ten, die offen seien für Glau­bens­fra­gen, aber keine klas­si­schen Gottes­diens­te besu­chen. «Das sind in St. Gallen immer­hin 91 Prozent der Kirchensteuerzahler», sagt Wenk.

Gut vernetzt

Das vier­köp­fi­ge Team der City­se­el­sor­ge trifft sich vor den gemein­sa­men Sitzun­gen zum Gebet und Austausch. «Wir teilen unse­re Erleb­nis­se bewusst mitein­an­der und notie­ren das Wich­tigs­te auf einer gros­sen Schrift­rol­le. Diese ist mitt­ler­wei­le bestimmt zehn Meter lang und wird später im Sinne einer Rück­schau wieder ausge­rollt.» Die Zusam­men­ar­beit im Team sowie mit ande­ren Anlauf­stel­len der Kirche ist Wenk sehr wich­tig. Man lerne sehr viel vonein­an­der und könne die viel­schich­ti­gen Anlie­gen oder Hilfe­ru­fe aus den eige­nen Begeg­nun­gen auch an ande­re Fach­leu­te weiter­rei­chen. Ab August erhält das Team zusätz­li­che Verstär­kung für den Bereich «Mobi­le Ökopro­jek­te». Eine gros­se Unter­stüt­zung sind auch die Frei­wil­li­gen: «Unse­re Arbeit würde ohne sie nicht funk­tio­nie­ren», sagt Wenk. Dazu kommen projekt­be­zo­ge­ne Part­ner­schaf­ten wie beispiels­wei­se mit der Refor­mier­ten Kirche. Für nächs­tes Jahr ist eine Part­ner­schaft mit «Wohn­mo­bil­land Schweiz» vorge­se­hen. Wenk verrät, dass sie einen grös­se­ren Event mit Camper-Segnungen planen.

Werk­zeug für den Frieden

Wenk zitiert eine Stel­le aus einem Gebet, das Franz von Assi­si zuge­schrie­ben wird. Diese scheint ihm für seine Arbeit sehr wesent­lich: «Gott, mach mich zu einem Werk­zeug deines Frie­dens.» Diese Meta­pher helfe ihm, seine Aufga­be wahr­zu­neh­men und sich immer wieder auf neue Begeg­nun­gen einzu­las­sen. Die mobi­le City­se­el­sor­ge bespielt bewusst keine eige­nen Räum­lich­kei­ten. «Wir sind immer draus­sen unter­wegs am Puls der Gesell­schaft. Unse­re Kirche ist die City.» Auch hier versu­chen sie, «das Gött­li­che in die Welt zu spie­geln». So sieht Wenk das Ange­bot der mobi­len City­se­el­sor­ge auch als Ergän­zung zu den Pfar­rei­en, die bereits sehr wert­vol­le Arbeit leis­ten würden.

Ein Blick in den Krug: Lego-Figuren als ­Symbol für unsere Mitmenschen.

Text und Bilder: Katja Hongler

Veröf­fent­li­chung: 24.07.2023

Das Recht auf Wind in den Haaren

Wer gerne den Wind in den ­Haaren spürt, fährt ohne: Sonst schützt die ­Fahr­gäs­te aber ein Dach vor dem Wetter. Paul Zünd befes­tigt es an der Rikscha.

Mit einer Velo-Rikscha und einem Team von 28 ehren­amt­li­chen Pilo­tin­nen und Pilo­ten ­ermög­licht der Rorscha­cher Paul Zünd Hoch­be­tag­ten Ausfahr­ten zu deren ­Lieb­lings­or­ten. Das Schöns­te daran sei, miter­le­ben zu können, wie seine Fahr­gäs­te aufblü­hen, sagt der ­Reli­gi­ons­päd­ago­ge. Seine Leiden­schaft für’s Velo­fah­ren entdeck­te er einst als Velokurier.

Wer gerne den Wind in den ­Haaren spürt, fährt ohne: Sonst schützt die ­Fahr­gäs­te aber ein Dach vor dem Wetter. Paul Zünd befes­tigt es an der Rikscha.

Zum Velo­fah­ren bin ich erst spät gekom­men», sagt Paul Zünd, der bei der Katho­li­schen Kirche der Regi­on Rorschach für das Ressort Erwach­se­ne zustän­dig ist. Im Schat­ten des Parks vor der Herz-Jesu-Kirche hat er seine Rikscha parkiert, mit der er regel­mäs­sig Senio­rin­nen und Senio­ren ausfährt. «Als 12-Jähriger habe ich zwar gear­bei­tet und mir von dem Geld ein Renn­ve­lo gekauft. Danach wurde ich aber erst mal ein rich­ti­ger Töff­libueb», sagt der 51-Jährige. Zum Velo­fah­ren brach­te ihn in seinen Zwan­zi­ger­jah­ren schliess­lich ein Freund, der vorschlug, dass sie beide doch Velo­ku­rie­re werden soll­ten. Später leite­te und baute er unter ande­rem den Velo­ku­rier Die Flie­ge in St. Gallen aus. «Das Gefühl, auf dem Velo mit der Umwelt und den Menschen verbun­den zu sein, faszi­niert mich bis heute. Es gibt keine Glas­schei­be dazwi­schen und ich bin in einer Geschwin­dig­keit unter­wegs, in der ich mich auf das Gesche­hen um mich herum einlas­sen kann», sagt er.

Eigent­lich sind Elfi und Peter Künz­le selbst täglich mit ihren Velos unter­wegs. Zu ihrem 57. Hoch­zeits­tag gönnen sie sich aber eine Ausfahrt mit der Rikscha.

Ausfahrt zum Hochzeitstag

Dieses Gefühl, auszu­fah­ren, den Wind in den Haaren zu spüren, unter­wegs spon­tan Bekann­ten zu begeg­nen: Das sollen mittels der Rikscha auch die Fahr­gäs­te von Paul Zünd erle­ben. Vor vier Mona­ten hat er daher das Rikscha-Projekt gestar­tet und ein Team von 28 ehren­amt­li­chen Pilo­tin­nen und Pilo­ten zusam­men­ge­stellt. An diesem Vormit­tag trifft er das Ehepaar Elfi und Peter Künz­le aus Rorschach. Die beiden sind um die 80 Jahre alt und eigent­lich selbst täglich auf dem Velo unter­wegs. Da die Katho­li­sche Kirche der Regi­on Rorschach aktu­ell auf ihrer Home­page mit neuen Fotos verschie­de­ne Projek­te vorstellt, haben sich die beiden bereit­erklärt, als Foto­mo­del­le bei einer Tour dabei zu sein. «Ausser­dem haben wir gera­de unse­ren 57. Hoch­zeits­tag gefei­ert. Wir fanden, aus diesem Anlass könn­ten wir uns gut auf etwas Neues wie eine Rikscha-Fahrt einlas­sen», sagt Elfi Künz­le. Sie fügt an, sie freue sich vor allem darauf, in der Natur zu sein und den Fahrt­wind zu spüren.

Teil des Glücks sein

Elfi und Peter Künz­le nehmen in der Rikscha Platz und befes­ti­gen den Anschnall­gurt. Paul Zünd steigt hinter ihnen auf den Sattel und tritt in die Peda­le. Maxi­mal 15 Kilo­me­ter pro Stun­de schnell wird er fahren. Ein elek­tri­scher Motor unter­stützt ihn dabei. Die Rikscha hat er über den Verein «Radeln ohne Alter Schweiz» gemie­tet. Elfi und Peter Künz­le sind in Rorschach gut vernetzt und haben viele Bekann­te. Schon nach weni­gen Metern wird klar, worin der Vorteil einer solchen Ausfahrt liegt: Ein Winken hier, ein paar Zuru­fe dort und immer wieder wird das Ehepaar von Bekann­ten auf dem Velo oder im Auto über­holt. «Miter­le­ben zu können, wie meine Fahr­gäs­te unter­wegs aufblühen, und Teil ihres Glücks zu sein, ist das Schöns­te für mich als Pilot», sagt Paul Zünd. In den Alters- und Pfle­ge­hei­men spre­che man bei dieser Art der Tages­ge­stal­tung von Aktivierung.

Die Rück­mel­dun­gen, die Paul Zünd und sein Team von den Betreuungs- und Pfle­ge­fach­per­so­nen erhal­ten, sind posi­tiv. Den Fahr­gäs­ten sei anzu­mer­ken, wie gut ihnen die Ausfahrt getan habe. Mitt­ler­wei­le machen das Senio­ren­zen­trum La Vita in Gold­ach, das Alters­heim Rorschach und das Haus zum Seeblick im Rorscha­cher­berg bei dem Projekt mit. Im Durch­schnitt 20 Buchun­gen für seine Rikscha-Ausflüge erhält Paul Zünd von diesen im Monat. Ein bis zwei Stun­den dauert eine Fahrt und führt zu Lieb­lings­or­ten der jewei­li­gen Fahr­gäs­te. «Eine Frau wünsch­te sich zum Beispiel einmal eine Tour zum Hotel Bad Horn, um dort am See etwas zu trin­ken», sagt Paul Zünd. Und ein Ehepaar woll­te noch einmal zu jenem Haus fahren, in dem es gelebt hatte. Manch­mal komme es aller­dings auch vor, dass ein Fahr­gast zu unru­hig sei oder aus verschie­de­nen Grün­den die Fahrt nicht genies­sen könne. «In solchen Situa­tio­nen kehre ich um und brin­ge die Person zurück», sagt er.

Paul Zünd ist mit seinen Fahr­gäs­ten mit maxi­mal 15 Kilo­me­tern pro Stun­de auf den ­Velo­we­gen unter­wegs. Immer im Einsatz sind Glocke und Geschwindigkeitsanzeige.

Eine eige­ne Rikscha kaufen

«Recht auf Wind im Haar», so hat Paul Zünd sein Rikscha-Projekt benannt. Erfun­den habe er diese Bezeich­nung aber nicht. Viel­mehr sei es ein welt­weit bekann­ter Spruch unter Rikscha­fah­re­rin­nen und ‑fahrern. Seit Anfang Juli ist auch klar, wie es mit dem Projekt weiter­geht. Das Pasto­ral­team hat sich einstim­mig für den Kauf einer Rikscha ausge­spro­chen und möch­te das Projekt nach den Sommer­fe­ri­en weiter­füh­ren. Nun liegt der Ball bei der Geschäfts­lei­tung und dem Kirchen­ver­wal­tungs­rat. Letz­te­rer muss für einen Kauf einen ausser­or­dent­li­chen Kredit sprechen.

Elfi und Peter Künz­le kehren derweil mit Paul Zünd an den Start­punkt zurück. Sie hatten Spass und Paul Zünd verspricht ihnen beim Abschied noch­mals eine rich­ti­ge Tour – ganz ohne Kame­ras. Er selbst wird sich am Abend auf sein Velo schwin­gen und nach Hause fahren. Ein Auto besitzt er nicht. «Auf dem Velo unter­wegs zu sein ist für mich der perfek­te Ausgleich», sagt er. «Mehr brau­che ich nicht.»

Text: Nina Rudnicki

Bilder: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 21.07.2023

«Die Reise ist jetzt doppelt so weit»

Nach 18 Stun­den Reise mit dem Zug ist Maria (59) am Ziel in Wein­fel­den TG: Die ­Slowa­kin arbei­tet im Auftrag von Cari­tas jeweils für sechs Wochen als Betreue­rin bei Eva – im Wech­sel mit einer ande­ren Betreue­rin. Dank Maria kann die pfle­ge­be­dürf­ti­ge Senio­rin weiter­hin in ihrem Haus blei­ben. Doch wie fair ist dieses Modell?

Ich arbei­te seit 13 Jahren als Betreue­rin im Ausland», sagt Maria beim Gespräch mit dem Pfar­rei­fo­rum in Wein­fel­den. Wir sitzen im Garten. Mit dabei ist Simo­ne Keller, bei Cari­tas Schweiz verant­wort­lich für die Betreue­rin­nen und Betreu­er aus Osteu­ro­pa. Eva, bei der Maria als Betreue­rin arbei­tet, hat gera­de Besuch von einer Freun­din. Maria erzählt von ihrer Heimat: Sie kommt aus einem Dorf mit 500 Einwoh­nern in der Ost-Slowakei – nur 40 Kilo­me­ter entfernt von der ukrai­ni­schen Gren­ze. Den Ausbruch des Kriegs in der Ukrai­ne hat sie haut­nah mitbe­kom­men. Maria hat die Bilder immer noch vor Augen: «Das Dorf und die Umge­bung waren voll mit Autos von Menschen, die aus der Ukrai­ne geflüch­tet sind.» Maria schätzt ihre Arbeits­stel­le in der Schweiz. Doch die Reise und der Wech­sel zwischen zwei Kultu­ren und Menta­li­tä­ten falle ihr zuneh­mend schwe­rer. «Früher habe ich einfach die Koffer gepackt und dann ging’s los. Jetzt kostet mich das schon mehr Ener­gie. Habe ich alles einge­packt und an alles gedacht? Ist das Haus abge­schlos­sen?» Während Maria in der Schweiz ist, ist ihr Haus leer. «Meine Kinder sind erwach­sen, ich lebe alleine.»

Beim Inter­view in Wein­fel­den spricht Care-MigrantinMaria (59) über das Pendeln zwischen ihrer Heimat Slowa­kei und der Ostschweiz und somit zwischen zwei Kulturen.

Gelern­te Hochbauzeichnerin

Ursprüng­lich mach­te Maria eine Ausbil­dung zur Hoch­bau­zeich­ne­rin und arbei­te­te bis zum Fall des Eiser­nen Vorhangs in diesem Beruf. Dann war sie auf dem Gemein­de­amt tätig. «Es war immer mein Traum, ins Ausland zu gehen», sagt sie. Via Pfle­ge­kurs des Roten Kreu­zes findet sie den Einstieg in die Pfle­ge­ar­beit. Zwölf Jahre lang ist sie in Wien und Nieder­ös­ter­reich tätig. «Da frag­te mich eine Kolle­gin, die in Wein­fel­den als Betreue­rin für die Cari­tas tätig ist, ob ich nicht Lust hätte, in die Schweiz zu kommen und mich mit ihr abzu­wech­seln», erzählt sie. «Zunächst habe ich gezö­gert, aber als ich gehört habe, dass es eine Probe­zeit gibt, habe ich mir gesagt: Das schaffst du und dann kannst du immer noch entschei­den.» Simo­ne Keller von Cari­tas Schweiz ergänzt: «So wie bei Maria ist es eigent­lich selten. Meis­tens vermit­teln uns die Partner-Organisationen in der Slowa­kei und Rumä­ni­en die Betreue­rin­nen und Betreu­er.» Die Kolle­gin, die Maria auf die Stel­le in Wein­fel­den aufmerk­sam mach­te, ist heute auch die Betreue­rin, mit der sich Maria im 6‑Wochen-Rhythmus abwechselt.

Kontakt via WhatsApp

Maria schätzt ihre Arbeit und sie mag die Schweiz. «Ich erle­be die Menschen hier als selbst­be­wusst.» Die Menschen in der Slowa­kei könn­ten sich davon eine Schei­be abschnei­den. Mari­as prag­ma­ti­sche Grund­ein­stel­lung blitzt im Gespräch immer wieder auf. «Die Reise zwischen meiner Heimat und meinem Arbeits­ort in der Schweiz ist jetzt fast doppelt so lang», sagt sie, «dafür kümmert sich die Cari­tas um den ganzen Papier­kram und das Recht­li­che. In Öster­reich war ich selbst­stän­dig tätig und auf mich gestellt.» Sie habe den Wech­sel nie bereut. «Selbst­ver­ständ­lich vermis­se ich ab und zu meine Heimat, meine Freun­din­nen, die Kinder … Aber auch wenn ich stän­dig in der Slowa­kei wäre, würde ich meine Kinder nicht täglich sehen.» Whats­App sei Dank stehe sie mit ihnen in regel­mäs­si­gen Kontakt und bekom­me viel vom Alltag ihrer Fami­lie und Freun­de mit. «Der Sechs-Wochen-Rhythmus ist für meine Kinder und meine Freun­din­nen ganz normal.» Weih­nach­ten und Ostern im Ausland zu verbrin­gen – für viele Betreue­rin­nen oft eine schwe­re Zeit. Doch auch damit geht Maria entspannt um: «Es war für mich gar nicht so schlimm, Weih­nach­ten und Ostern bei Eva zu verbrin­gen, zuhau­se wäre ich dann viel­leicht allei­ne gewe­sen.» Wenn es so laufe wie jetzt, könne sie sich gut vorstel­len, noch bis zu ihrer Pensio­nie­rung als Betreue­rin im Ausland tätig zu sein.

Sprach­li­che Barrieren

Als Betreue­rin hilft Maria ihrer Klien­tin bei der Körper­hy­gie­ne, sie kümmert sich um den Haus­halt, erle­digt Einkäu­fe und leis­tet ihr Gesell­schaft. «Ich schät­ze es, dass ich sehr selbst­stän­dig arbei­ten kann.» Während der sechs Wochen, die Maria jeweils in Wein­fel­den verbringt, lebt sie im Haus von Eva. Die Arbeits­zei­ten sind genau gere­gelt und einmal in der Woche hat Maria einen frei­en Tag. Doch wo Menschen zusam­men­le­ben, kommt es auch zu Reibe­rei­en und Konflik­ten. «Die meis­ten Konflik­te entste­hen, weil gegen­sei­ti­ge Erwar­tun­gen unaus­ge­spro­chen sind und es oft schwer fällt, sich auf eine gute Weise abzu­gren­zen», weiss Simo­ne Keller. Maria nickt zustim­mend. Momen­te, in denen Eva launisch reagiert oder mit ihrer Situa­ton über­for­dert sei, gehö­ren zum Alltag. «Es kann nicht jeder Tag Sonn­tag sein. Wenn immer möglich, versu­che ich humor­voll mit solchen Situa­tio­nen umzu­ge­hen», so Maria. «Ich weiss natür­lich, dass ich so etwas nicht persön­lich nehmen darf, aber trotz­dem verlet­zen solche Äusse­run­gen.» Oft helfe ihr auch eine Haltung, die ihr ihre Mutter beigebracht habe: «Nega­ti­ve Wort­mel­dun­gen sind nicht mehr als ein Zug, der bei einem Ohr hinein­fährt und beim ande­ren wieder hinaus.» Simo­ne Keller ergänzt: «Es wird genau geprüft, welche Betreue­rin zu welcher Kundin oder welchem Kunden passt. Das Mensch­li­che muss stim­men.» Cari­tas klärt auch genau ab, ob die Situa­ti­on und die gesund­heit­li­che Verfas­sung der Klien­tin­nen und Klien­ten für das Betreu­ungs­mo­dell geeig­net ist.

Aus der Zeitung vorlesen

Maria und Eva hätten schnell einen Draht zuein­an­der gefun­den. Dazu beigetra­gen hat auch Lili – Evas Katze, Maria hat sie auf Anhieb ins Herz geschlos­sen. Nur sprach­lich gibt es manch­mal Schwie­rig­kei­ten: Maria spricht zwar flies­send Schrift­deutsch, doch Eva versteht sie oft nicht. Schmun­zelnd erzählt Maria eine Episo­de aus ihrem Alltag: «Ich lese ihr täglich aus der Zeitung vor. Wenn ich sie frage: Verste­hen Sie mich?, schüt­telt sie den Kopf. Aber sie meint: Das ist egal, lesen Sie weiter.» Betreue­rin und Klien­tin prägen sich gegen­sei­tig und im Ideal­fall lernen sie vonein­an­der. «Was ich auch schon von Betreue­rin­nen gehört habe: Ihre Kinder sagen zu ihnen: Wir merken, dass du wieder da bist – jetzt gibt es stän­dig Salat als Vorspei­se. Das ist in der Slowa­kei und Rumä­ni­en nicht üblich.» Umge­kehrt brin­gen Betreue­rin­nen bestimm­te Gewür­ze aus ihrer Heimat mit ober über­ra­schen an Weih­nach­ten mit einem Gulasch.

Mit Abschied konfrontiert

Bevor Maria in die Schweiz wech­sel­te, hat sie zwei Jahre lang ihre Mutter zuhau­se in der Slowa­kei gepflegt – diese starb mit 94 Jahren. In der Slowa­kei sei es noch immer häufig, dass älte­re Menschen von ihrer Fami­lie gepflegt werden und möglichst lange zuhau­se blei­ben. Als Betreue­rin hat Maria schon mehr­mals erlebt, dass sie ihre Klien­ten bis zum letz­ten Tag beglei­tet hat. Die stän­di­ge Konfron­ta­ti­on mit Ster­ben und Tod sei für sie trotz­dem nicht einfa­cher gewor­den. Sie zuckt mit den Achseln und lächelt. «Aber ich habe nun mal diesen Beruf gewählt, ich muss mich dem stel­len.» Was mit ihr sei, wenn sie mal hoch­be­tagt sei, daran möch­te sie jetzt nicht zu viel nach­den­ken: «Mein Motto ist: Es kommt, wie es kommt. Es lohnt sich nicht, sich darüber Gedan­ken zu machen.»

Text: Stephan Sigg

Bilder: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 22. 06. 2023

Endlich wieder gut schlafen

Egal ob Schlaf­stö­run­gen, nerv­li­che Belas­tun­gen oder Heuschnup­fen – die Haus­mit­tel aus dem Klos­ter St. Otti­lia in Grim­men­stein (Walzen­hau­sen) haben schon vielen bei körper­li­chen Beschwer­den gehol­fen. Sr. Danie­la und Sr. Michae­la geben dem Pfar­rei­fo­rum ­­einen exklu­si­ven Einblick in den Klos­ter­gar­ten und die Herstel­lung der Haus­mit­tel. Sie verra­ten, was das Beson­de­re an Haus­mit­teln aus dem Klos­ter ist.

Sr. Danie­la (links) und Sr. Michae­la sind von Ostern bis Ende Okto­ber täglich im Garten des Klos­ters St. Otti­lia, Grim­men­stein, Walzen­hau­sen anzutreffen.

In letz­ter Zeit kommen vermehrt Menschen zu uns, die von nerv­li­chen Proble­men, Schlapp­heit oder Husten geplagt sind», erzählt Sr. Michae­la. Sie ist im Klos­ter Grimmen­stein für die Herstel­lung und Produk­ti­on der Haus­mit­tel verant­wort­lich. Die wich­tigs­ten Zuta­ten dafür stam­men aus ihrem Klos­ter­gar­ten. Für diesen ist Sr. Danie­la zustän­dig. Der Garten ist für beide mehr als nur ein Arbeits­ort. «Wenn endlich der Früh­ling kommt, können wir es meis­tens kaum erwar­ten, wieder im Garten zu sein und uns um die Pflan­zen zu kümmern», sagt Sr. Danie­la. Das weittläu­fi­ge Grund­stück mit Blick auf den Boden­see ist unter­teilt in einen Kräuter- und einen Gemü­se­gar­ten. Über fünf­zig Kräu­ter wach­sen hier. Das Wissen über ihre Wirk- und Heil­kräf­te hat Sr. Danie­la von ihren Vorgän­ge­rin­nen gelernt und selber via Bücher und Inter­net erwei­tert. «Wir haben zwar alte Rezept­bü­cher, aber die Rezep­te wurden immer münd­lich weiter­ge­ge­ben», sagt sie. «Das Wissen um die Heil­kräu­ter wird auch nicht inner­halb des Ordens oder mit ande­ren Klös­tern ausge­tauscht. Es sind die Rezep­te von unse­rem Kloster.»

Sr. Michae­la verant­wor­tet den Laden mit den Heilmitteln.

Altbe­währ­te Rezepte

Verschie­de­ne Stär­kungs­mit­tel, Tees, Trop­fen, Salben, Pulver und Balsam – das Sorti­ment des Klos­ters Grim­men­stein  ist gross. Eines wird dabei aber auch sicht­bar: Es geht um eine ganz­heit­li­che Medi­zin. Die Mittel zielen nicht nur auf das Lindern von bestehen­den Beschwer­den ab, sondern setzen bereits bei der Präven­ti­on an. Dazu gehört auch eine gesun­de und ausge­wo­ge­ne Ernäh­rung. Neu produ­zie­ren die Schwes­tern auch Kräu­ter­sal­ze für die Küche. Schon immer sei die Herstel­lung von Haus­mit­teln ein wich­ti­ges Aufga­ben­ge­biet im Klos­ter St. Otti­lia Grim­men­stein gewe­sen. Entstan­den ist das Kapu­zi­ne­rin­nen­klos­ter im Jahr 1378 aus einer klei­nen Begi­nen­ge­mein­schaft (halb­klös­ter­li­che Gemein­schaft). Mit dem Verkauf von Haus­mit­teln sei es aber erst in den 1950er-Jahren rich­tig losge­gan­gen. An ihre Vorfah­rin­nen erin­nert im Lager ein Regal mit 100-jährigen Tontöp­fen. «Das ist aber nur zur Zier­de, wir arbei­ten heute mit ande­ren Behäl­tern.» Auch wenn die Haus­mit­tel auf altbe­währ­ten Rezep­ten beru­hen, werden die Rezep­te immer wieder weiter­ent­wi­ckelt und an den aktu­el­len Wissens­stand ange­passt. Die wich­tigs­te Zutat sei jedoch immer das Gebet. «Wir beten bei jedem Arbeits­schritt.» Mit dem Waren­lift, der vor ein paar Jahren einge­baut wurde, geht es vom Erdge­schoss bis ins Dach­ge­schoss – dort haben Sr. Danie­la und Sr. Michae­la gera­de frisch gepflück­te Blüten zum Trock­nen ausge­legt. Der Waren­lift und die Anschaf­fung der einen oder ande­ren Maschi­ne haben die Produk­ti­on verein­facht, das meis­te ist jedoch bis heute Hand­ar­beit. Das sei körper­lich manch­mal anstren­gend. «Doch es ist eine erfül­len­de Aufga­be und so etwas wie eine Beru­fung. Wir verste­hen die Herstel­lung der Haus­mit­tel als Dienst für die Menschen.» Moti­vie­rend seien für sie auch die Rück­mel­dun­gen, die sie bekom­men: «Wir erfah­ren sehr viel Dank­bar­keit – und dass die Menschen auf uns setzen, ist auch ein Ausdruck von Vertrau­en.» Unter­stützt werden die beiden Schwes­tern von zwei Ange­stell­ten, die stun­den­wei­se im Garten und in der Verar­bei­tung helfen. Der Verkauf der Haus­mit­tel gene­rie­re für die Gemein­schaft ein wich­ti­ges Einkom­men. Trotz­dem versu­chen die Schwes­tern, die Produk­te möglichst güns­tig anzu­bie­ten. «In unse­rer Gemein­schaft galt schon immer der Tenor: Die Produk­te sollen für möglichst alle erschwing­lich sein.»

Sr. Danie­la legt im Dach­stock die Blüten zum Trock­nen aus.

Gros­se Nachfrage

Im Unter­schied zu ande­ren Klös­tern hat das Klos­ter Grim­men­stein keinen Shop – die Produk­te werden an einem Schal­ter verkauft. «So können wir, wenn es gewünscht wird, die Menschen besser bera­ten», erklärt Sr. Michae­la. Es gehe oft um viel mehr als nur um den Verkauf von Produk­ten: «Viele, die zu uns kommen, haben das Bedürf­nis nach einem offe­nen Ohr: Sie möch­ten mit uns über ihre Sorgen und Nöte spre­chen. Heute bleibt im Alltag oft kaum Zeit für Gesprä­che, deshalb ist es uns beson­ders wich­tig, uns Zeit für die Menschen zu nehmen.» Das Ange­bot wird rege genutzt – es kommen Menschen aus der ganzen Deutsch­schweiz, aus dem benach­bar­ten Vorarl­berg und auch aus Deutsch­land. Viele würden durch Mund-zu-Mund-Propaganda auf das Klos­ter aufmerk­sam. Zu den Kundin­nen und Kunden gehö­ren Menschen, die mit der Kirche verbun­den sind, aber auch Kirchen­fer­ne und auch Ange­hö­ri­ge  von ande­ren Konfes­sio­nen und Reli­gio­nen. Die beiden Schwes­tern nehmen wahr, dass sich in den letz­ten Jahren wieder ein neues Bewusst­sein für die Heil­kräf­te der Natur entwi­ckelt hat. Das ist auch beein­flusst von Papst Fran­zis­kus, der mit seinem Lehr­schrei­ben «Lauda­to si» auf die Schöp­fungs­ver­ant­wor­tung und die Natur als Schöp­fung Gottes aufmerk­sam gemacht hat. «Zudem hat die Corona-Pandemie dazu geführt, dass sich viele wieder vermehrt über­le­gen, wie sie die natür­li­chen Abwehr­kräf­te und das Immun­sys­tem stär­ken können», so Sr. Daniela.

Über fünf­zig Kräu­ter und Pflan­zen wach­sen im Klos­ter St. Otti­lia, Grim­men­stein, Walzenhausen

Jugend­li­che zu Gast

Sechs Schwes­tern leben heute im Klos­ter St. Otti­lia. Wie viele ande­re Klös­ter sind sie auch hier mit dem stei­gen­den Alters­durch­schnitt der Mitschwes­tern und ausblei­ben­den Neuein­trit­ten konfron­tiert. Trotz­dem blicken Sr. Danie­la und Sr. Michae­la gelas­sen in die Zukunft. «Da unse­re Klos­ter­kir­che auch Pfarr­kir­che ist, sind wir mit vielen Menschen in Kontakt», sagt Sr. Danie­la, «Wir bieten regel­mäs­sig Klos­ter­ta­ge für junge Frau­en an.» Sr. Michae­la ergänzt: «Zudem sind auch immer wieder Firm­grup­pen oder Schul­klas­sen bei uns zu Gast. Das ist für uns auch eine Möglich­keit, auf unse­re Tradi­ti­on aufmerk­sam zu machen und die Bedeu­tung der Heil­pflan­zen aufzu­zei­gen.» Für die Jugend­li­chen sei das oft ganz neu, aber sie würden sehr inter­es­siert reagie­ren. Die beiden Schwes­tern rech­nen auch in Zukunft mit einer Nach­fra­ge nach Haus­mit­teln, die auf altbe­währ­ten Rezep­ten basie­ren. Sr. Michae­la öffnet eine Kiste – es riecht sofort inten­siv nach Sommer­wie­se – und greift nach einer Verpa­ckung. «Das ist eine Neuheit», sagt sie und lacht, «wir haben unse­re Tees umbe­nannt. Jetzt trägt jeder Tee den Namen einer Heili­gen.» Es gibt einen Klara-Tee, einen Brigida-Tee und natür­lich auch einen Tee mit dem Namen der Klos­ter­pa­tro­nin Otti­lia. Die Heiligen-Namen sollen bei den Käufe­rin­nen und Käufer die Wieder­erken­nung stär­ken, aber gleich­zei­tig auch noch mehr in den Fokus rücken: Die Haus­mit­tel aus dem Klos­ter Grim­men­stein sind ganz eng verwo­ben mit dem Glau­ben der Schwes­tern und der Spiri­tua­li­tät der Kapuzinerinnen-Gemeinschaft.

Die Teemi­schun­gen tragen neu den Namen von Heiligen.

Euro­päi­sche Verei­ni­gung für Tradi­tio­nel­le Euro­päi­sche Medi­zin tagt in St. Gallen

In der medi­zi­ni­schen Präven­ti­on und Thera­pie wird das uralte Wissen um die Heil­kräf­te der Pflan­zen – das im euro­päi­schen Raum zum gros­sen Teil auf den Klös­tern und berühm­ten kirch­li­chen Pionie­ren wie der Heili­gen Hilde­gard von Bingen oder den Pries­tern Sebas­ti­an Kneipp und Johan­nes Künz­le beruht – wieder neu entdeckt. Am 17. Juni 2023 hält die Euro­päi­sche Verei­ni­gung für Tradi­tio­nel­le Euro­päi­sche Medi­zin TEM ihre Grün­dungs­ver­samm­lung im Stifts­be­zirk St. Gallen ab (Musik­saal des Deka­nat­flü­gels). Die Grün­dungs­ver­samm­lung ist gleich­zei­tig eine Tagung, bei der Fach­leu­te für TEM und inter­es­sier­te Laien Wissen über die TEM austau­schen und sie gemein­sam vorwärts­brin­gen, wie die Orga­ni­sa­to­ren auf ihrer Website schrei­ben. Es refe­rie­ren verschie­de­ne Exper­tin­nen und Exper­ten aus den Berei­chen Phar­ma­zie, Ernäh­rungs­wis­sen­schaf­ten und Komple­men­tär­me­di­zin. Unter den Refe­ren­ten ist auch Cornel Dora, Stifts­bi­blio­the­kar. Dieser spricht über das Klos­ter St. Gallen als ein Ort des Heilens im Frühmittelalter.

Infos TEM: https://tem-forum.org

Text: Stephan Sigg

Bild: Regi­na Kühne

Veröf­fent­li­chung: 24.05.2023

Pfarrblatt im Bistum St.Gallen
Webergasse 9
9000 St.Gallen

+41 71 230 05 31
info@pfarreiforum.ch