Einem Käfer ebenbürtig

Mina Inauen-Neff von Appen­zell (73) singt den Betruf seit sie als zwölf­jäh­ri­ges Mädchen bei ihrem Vater auf der Alp gear­bei­tet hat. «Es hat sich so erge­ben», sagt die Älple­rin, die 2012 im Kino­film «Alpse­gen» porträ­tiert wurde. 

Seit zwan­zig Jahren verbringt Mina Inauen-Neff die Sommer­mo­na­te zusam­men mit ihrem Mann sowie rund 40 Tieren auf der Alp Streck­wees (1257 m. ü. M) im Alpstein, wo sie jeden Abend den tradi­tio­nel­len Betruf durch den Trich­ter singt. Als Mesme­rin ist sie zudem für die Berg­got­tes­diens­te in der nahge­le­ge­nen Kapel­le «Maria Heim­su­chung» zustän­dig. Die pensio­nier­te Handarbeits- und Haus­wirt­schafts­leh­re­rin ruft den Alpse­gen aus tiefer, inne­rer Über­zeu­gung: «Der Betruf gibt mir Kraft und ich kann damit meine Dank­bar­keit ausdrü­cken. Wir sind in der Natur in Gottes Hand gebor­gen, aber wir sind nicht mehr als ein Teil davon.» Wer den Natur­ge­wal­ten in der Berg­welt ausge­setzt ist, erlebt die eige­ne Exis­tenz ganz bewusst als Teil des Ganzen. «Du bist nicht mehr als so ein Käfer – du bist ande­ren Lebe­we­sen eben­bür­tig und du sollst dich nicht als Beherr­scher der Natur aufspie­len», sagt sie. 

Volks­tüm­li­cher Charakter

Den Betruf bezeich­net Inau­en als «singen­des Gebet», von dem man sagt, es sei doppelt so viel wert. Man bittet die Heili­gen und Schutzpatrone, sie mögen Mensch, Tier und Alp von Unge­mach fern­hal­ten. Am besten gefällt ihr die Text­stel­le «Bhüets Gott allsa­me, seis Fründ oder Feind ond di lieb Mutter Gottes mit erem Chend», weil mit «allsa­me», alle gemeint sind und somit alle Menschen ins Gebet aufge­nom­men werden. «Wir bitten Gott, dass er uns alle beschützt und behü­tet», so Inau­en. Der Wort­laut des Betrufs vari­iert von Regi­on zu Regi­on. Der Text des Inner­rho­der Betrufs in der Fassung von 1948 stammt von Pater Erich Eber­le und basiert auf der Melo­die von Pater Ekke­hard Högger, «wobei es bei der Tonla­ge schon klei­ne­re Abwei­chun­gen gibt, je nach­dem wer den Betruf ausruft», ergänzt Inau­en. Der halb gespro­che­ne, halb gesun­ge­ne Alpse­gen erhält zusam­men mit dem mund­art­lich gefärb­ten Hoch­deutsch seinen unver­kenn­ba­ren, volks­tüm­li­chen Charakter. 

Keine Sonder­rol­le als Frau

Übli­cher­wei­se ruft der Senn den Betruf aus. Dass sie die einzi­ge Frau sein soll, die den Alpse­gen pflegt, hat für sie wenig Bedeu­tung. Ihrer Meinung nach können Frau­en und Männer gleich wohl beten. Es habe sich damals einfach so erge­ben. Sie erin­nert sich: «Als ich damals als zwölf­jäh­ri­ges Mädchen als ‹Hand­bueb› bei meinem Vater auf der Alp gear­bei­tet habe, hat mich der Milch­kon­trol­leur eines Tages auf den Trich­ter ange­spro­chen. Es herrsch­te schlech­tes Wetter und er hatte gera­de Zeit, mir den Betruf beizu­brin­gen.» Seit­her holt sie den Holz­trich­ter jeden Abend zwischen 19 und 20 Uhr hervor und steht auf den Stein neben der Alphüt­te. «Ich mache es immer zu dieser Zeit – und ich mache es auch nicht den Touris­ten zulie­be früher oder später», sagt die Älplerin. 

Tradi­ti­on soll weitergehen

Sie wird heute noch oft auf ihre Rolle im Kino­film «Alpse­gen» von Bruno Moll ange­spro­chen, der 2012 ausge­strahlt wurde. Es sei eine schö­ne Erfah­rung gewe­sen, aber auch streng, weil sie vor laufen­der Kame­ra spon­tan auf tief­grün­di­ge Fragen antwor­ten muss­te. «Ich habe sehr viele, posi­ti­ve Rück­mel­dun­gen erhal­ten und ich habe gemerkt, dass viele Leute nur wenig Ahnung vom Alple­ben haben.» Laut Inau­en zeigt der Film neben den schö­nen Seiten auch die anstren­gen­de Arbeit und die unmit­tel­ba­ren Gefah­ren in der Berg­welt. Wie es mit der Fami­li­en­tra­di­ti­on einmal weiter­ge­hen soll, weiss sie noch nicht. Wich­tig sei ihr, dass der Alpse­gen nicht zur Touris­ten­ak­ti­on verkom­me. «Ich bin zuver­sicht­lich, dass diese schö­ne Tradi­ti­on auf der Alp Streck­wees weiter­ge­pflegt wird».

Text: Katja Hongler

Bild: Annet­te Boutellier

Veröf­fent­licht: 05. Juni 2023

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