Der Friedhof hat für Marianne Dietrich aus Gossau eine grosse Bedeutung. Er half ihr, den Verlust ihres Mannes besser zu ertragen. Für die 82-Jährige ist er aber mehr als nur Ort der Trauer und der Erinnerungen. Am Grab lässt sie auch fröhliche Momente zu.
Der Herbst hat Einzug gehalten. Die Blätter an den Bäumen erstrahlen in bunten Farben und die Bise weht steif. Marianne Dietrich schreitet langsam, aber zielgerichtet den breiten Weg entlang. Es ist ein Weg, den sie gut kennt. Sie ist ihn schon unzählige Male gegangen. Marianne Dietrich hat vor fünf Jahren ihren Mann verloren. René Dietrich war 77 Jahre alt, als er einen Hirnschlag erlitt. Es folgten Spitalaufenthalte und Therapien. Zuletzt wohnte René Dietrich im Pflegeheim Vita Tertia in Gossau. Seit seinem Tod besucht Marianne Dietrich das Grab ihres geliebten Mannes regelmässig. «Ich komme gerne hierher», sagt die 82-Jährige. «Es tut mir gut.» Man merkt: Der Friedhofbesuch bedeutet Marianne Dietrich viel. «Hier treffe ich immer Menschen und kann einen Schwatz halten.» Das Wissen, dass es anderen ähnlich gehe, könne in der Trauer helfen. «Plötzlich merkt man, dass man nicht alleine ist.»

Den richtigen Platz gefunden
Marianne Dietrich grüsst Bekannte hier und winkt Freunden dort. Immer wieder bleibt sie kurz stehen und schaut auf Grabsteine. Und immer wieder sieht sie darauf ihr bekannte Namen. Mit fortschreitendem Alter werden es immer mehr. Ein Umstand, den Marianne Dietrich akzeptieren muss. Ihr Ehemann hat seine letzte Ruhestätte im Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof Hofegg in Gossau gefunden. Auf dem grossen, achtteiligen Monument sind auf goldig-schimmernden Plaketten die Namen der Verstorbenen vermerkt. Marianne Dietrich läuft um den Grabstein herum. An der Rückseite – ganz oben – steht der Name ihres verstorbenen Mannes. Sie tritt an den Stein heran und schaut hoch. Der Grabstein liegt an diesem Nachmittag halb im Schatten. «Hier hat er den richtigen Platz gefunden. Er mochte Schatten sehr gerne. Ich mag lieber Sonnenschein», sagt Marianne Dietrich mit einem Lächeln im Gesicht. Die Erinnerungen an ihren Mann sind allgegenwärtig. Und auch wenn man ihr die Trauer bei jedem Wort ansieht, kann sie mittlerweile wieder fröhliche Momente zulassen. «An einem Grab darf man auch lachen», sagt sie.

Marianne Dietrich erinnert sich gerne an die 54 gemeinsamen Jahre zurück. «Wir hatten es gut miteinander und ein so schönes Leben.» Dass sie noch den goldenen Hochzeitstag feiern konnten, bedeutet ihr sehr viel. Sie spricht über die Kinder, über die Hobbys ihres Mannes, über gemeinsame Ausflüge – und der Ort, an dem Marianne Dietrich noch kurz zuvor fröhlich war, wird plötzlich zum Ort, an dem Tränen ihre Wangen herunterkullern. Der Abschied wiegt noch immer schwer. «Ich vermisse ihn jeden Tag.»
Trauercafé als Fixpunkt
Auf dem Friedhofsbesuch wird Marianne Dietrich oft von zwei Freundinnen begleitet. Wenn Tochter Karin zu Besuch ist, gehört auch für sie der Gang ans Grab des Vaters zur Pflicht. An diesem sonnigen Tag Ende September ist Marianne Dietrich mit Jacqueline Bollhalder, katholische Seelsorgerin in Gossau und Leiterin des ökumenischen Trauercafés, auf dem Friedhof. Die beiden kennen sich gut. Seit dem Tod des Mannes ist das monatliche Treffen ein Fixpunkt in Dietrichs Agenda. Einmal wöchentlich nimmt sie am Mittagessen im Friedegg teil und einmal im Monat besucht sie den Seniorennachmittag der Pfarrei. «Das tut mir gut», sagt Marianne Dietrich. «Ich kann hier mit Mitmenschen sprechen. Wir alle haben das Gleiche erlebt. Und es sind alles liebe Menschen.»

Auch Jacqueline Bollhalder schätzt Marianne Dietrich. «Sie sorgt sich sehr um die anderen im Trauercafé, spielt Fahrerin und ist ein Sonnenschein», so Bollhalder. Die beiden Frauen verbindet mittlerweile mehr als nur eine Zweckgemeinschaft. Man interessiert sich füreinander und sorgt sich umeinander. Jacqueline Bollhalder weiss aus Erfahrung, wie wichtig für Betroffene der Friedhof als Ort der Trauer und Erinnerung ist. «Viele Betroffene besuchen die Gräber nach einem Verlust jeden Tag. Das gibt ihnen eine Struktur», sagt Bollhalder. «Auf dem Friedhof muss man mit niemandem reden und weiss gleichzeitig, dass alle dort das Gleiche erlebt haben. Das Wissen, dass andere diese Situation auch durchmachen, hilft vielen. Zudem wollen sie die Erinnerung an diese Personen erhalten.»
Begegnungen wichtig
Am Grab setzt sich Marianne Dietrich gerne auf die bereitgestellten Stühle. Oft spricht sie zu ihrem Mann, erzählt ihm, was sie erlebt hat oder was sie beschäftigt. Schlimm seien am Anfang vor allem die Wochenenden gewesen. Dann, wenn nicht viel läuft und sie Zeit hatte, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. «Ich hatte sehr viele Krisen», sagt Dietrich. «Gerade die Monate nach dem Tod waren der Friedhof und die Begegnungen dort für mich sehr wichtig.» Der Verlust eines geliebten Menschen lasse einen in ein Loch fallen. «Nichts ist mehr, wie es war.» Sie habe sich anstrengen müssen, wieder am Leben teilzunehmen, nach draussen zu gehen, nicht zu vereinsamen.

Der Friedhof und die Gespräche dort halfen ihr dabei. Irgendwann begann sie wieder mehr, unter die Leute zu gehen. «Ich wollte nicht versauern.» Marianne Dietrich ist dankbar, dass sie noch so rüstig ist, ein gutes Umfeld und viele nette Freundinnen und Freunde hat. Aber es gibt auch immer wieder schwierige Zeiten. Etwa, als sie sich vor zwei Monaten operieren lassen musste. «In solchen Zeiten vermisse ich meinen Mann noch mehr.»
Räumung war «schrecklich»
Gerne würde sie beim Grab öfter das bereitgestellte Weihwasser nutzen und die Plakette damit bepinseln – «damit er auch merkt, dass ich da war.» Die Plakette hängt allerdings zu hoch. Marianne Dietrich kann sie nicht erreichen. Heute übernimmt das ihre Begleiterin Jacqueline Bollhalder. «Ich bepinsle dann halt stattdessen manchmal Plaketten von Freunden», sagt Dietrich. Früher habe sie jeweils noch eine Kerze ans Grab mitgenommen. «Aber das habe ich aufgegeben. Wegen des Windes erlöschen die immer wieder.»

Dann wird Marianne Dietrichs Stimme leiser. Sie wirkt nachdenklich. Man habe sie einmal gefragt, ob sie an die Auferstehung glaube. «Ich bin sicher, dass er es schön hat im Himmel», sagt sie. Marianne Dietrich musste bereits einmal einen schweren Schicksalsschlag verkraften. 1990 verstarb ihr Sohn im Alter von 22 Jahren. Seine Ruhestätte fand er ebenfalls auf dem Friedhof Hofegg. Auch damals waren die Friedhofbesuche ein Trost für Marianne Dietrich und sie kann sich noch gut an den Tag erinnern, als das Grab nach 25 Jahren geräumt wurde. «Das war schrecklich für mich.»
Grabpflege ausschlaggebend
Die Entscheidung für das Gemeinschaftsgrab hat Marianne Dietrich mit ihrem Mann gefällt. Ein Einzelgrab kam für sie nicht in Frage. «Wer sollte denn für das Grab schauen, wenn auch ich nicht mehr da bin?», fragt sie rhetorisch. Die Tochter wohne leider zu weit weg. So müsse sich niemand um das Grab kümmern und die Ruhestätte sehe immer schön aus. «Wichtig ist für mich einfach, dass sein Name dasteht und ich einen Ort habe, an den ich kommen kann, um ihm nahe zu sein.»

Auch sie selbst wird dereinst im Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof Hofegg beerdigt werden. Sie schaut abermals hoch zur Plakette ihres Mannes. Links und rechts daneben sind viele weitere Namen vermerkt. Jacqueline Bollhalder spricht den Umstand an, dass heute einige Menschen die Asche verstreuen. Sie selbst sehe das eher schwierig, aber man dürfe nicht urteilen. «Die Trauerarbeit ist so individuell und persönlich. Jeder muss das selbst für sich wissen.»
Erinnerungen bleiben
Die Besuche von Marianne Dietrich auf dem Friedhof wurden im Laufe der Jahre weniger. Früher war sie noch täglich am Grab ihres Mannes. Heute geht sie einmal wöchentlich. Die Erinnerungen an ihre Liebsten und die Trauer sind geblieben. Zuhause hat Marianne Dietrich einen kleinen Altar errichtet. Darauf eine Schüssel mit frischen Blumen und die Namen des Sohnes und des Ehemanns auf handgeschriebenen Zetteln. Jeden Abend zündet Marianne Dietrich im Gedenken an sie eine Kerze an.
Text: Alessia Pagani
Bilder: Regina Kühne
Veröffentlichung: 22. Oktober 2023