Mehr Sensibilität für die Geschlechtervielfalt – die Tagung der Fachstelle für Jugendarbeit im Bistum St. Gallen (Daju) regte an, über Geschlechterrollen, Diskriminierung und die Perspektive von sexuellen Minderheiten nachzudenken.
Was macht dich zur Frau, was macht dich zum Mann? Welche Geschlechtervorurteile machen dir zu schaffen? Was wäre in meinem Leben anders, wenn ich ein anderes Geschlecht hätte? Was ist unweiblich und unmännlich – und wer legt das fest? Gleich zu Beginn der Daju-Tagung in Trogen AR konfrontiert ein Fragebogen die Jugendseelsorgenden mit ihrer eigenen Haltung zum Geschlecht. Bei der anschliessenden Diskussion in Kleingruppen wird schnell klar: Auch wer sich selbst als tolerant und offen im Umgang mit der Geschlechtervielfalt bezeichnet, hat beim Fragebogen den einen oder anderen Aha-Moment erlebt. Vieles, das selbstverständlich scheint, ist doch gar nicht so selbstverständlich. Im Austausch mit den anderen schildern die kirchlichen Jugendarbeitenden aber auch bald Erfahrungen aus ihrem Berufsalltag: «Ich erlebe noch immer, dass manche Jugendliche sich gegen einen Lehrberuf entscheiden, weil dieser als zu weiblich oder zu männlich gilt und sie sich vor Häme und Vorurteilen fürchten.» Auch bekommen die Jugendarbeitenden mit, wie sehr Idealbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit in Werbung und Medien auch heute viele junge Menschen unter Druck setzen.

Offen und unverkrampft
Die Teilnehmenden sprechen ganz offen und unverkrampft. Man spürt, dass es in der kirchlichen Jugendarbeit schon viel Sensibilität im Umgang mit Geschlechtervielfalt und sexuellen Orientierungen gibt. Viele Jugendseelsorgende sind bemüht, Jugendliche bei der Entwicklung einer gelingenden Geschlechtsidentität zu unterstützen. Andere wiederum berichten, dass die Akzeptanz von queeren Jugendlichen unter Gleichaltrigen noch gar nicht so verbreitet ist wie man oft den Eindruck hat: Ein Jugendseelsorger erzählt von homophoben Äusserungen, die Jugendliche in seiner Pfarrei von sich gegeben haben.

Mit Sprache ausdrücken
Referentin Simone Dos Santos, Geschäftsleiterin der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen St. Gallen, zeigt immer wieder auf, wie sehr die Gesellschaft bis heute in Kategorien denkt. «Das gilt es zu hinterfragen», sagt sie. Die binäre Einteilung greife zu kurz und schliesse viele Geschlechteridentitäten aus. Während die einen die Vielfalt als bereichernd erleben, löst sie bei anderen Unsicherheiten und Ablehnung aus. «Die meisten von uns haben ihre Geschlechterrollen automatisch angenommen. Viele der heutigen Jugendlichen setzen sich intensiv mit der Frage auseinander, wer sie sind und wie sie ihr Geschlecht leben wollen. Manche spielen auch kreativ damit.» Das heisse aber nicht automatisch, dass es für sexuelle Minderheiten heute einfacher sei. Simone Dos Santos motiviert die Teilnehmenden, die Vielfalt auch in der Sprache sichtbar zu machen: Beispielsweise hätten Studien gezeigt, dass Kinder sich mehr Berufe zutrauen, wenn die Geschlechtervielfalt in Berufen auch sprachlich immer wieder explizit ausgedrückt wird. An der Tagung kommen auch Betroffene selbst zu Wort – am Vormittag in Filmeinspielungen und am Nachmittag stellt sich Amanda, eine junge Transfrau aus der Ostschweiz, den Fragen der Teilnehmenden.

Die Bibel und die Geschlechter
Im Tagungssaal hängt ein Banner an der Wand: «Gott liebt vielfältig.» Was sagt die Bibel zu diesem Thema? Dieser Frage geht am zweiten Tag Gregor Emmenegger, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Freiburg, nach. Er zeigt auf, dass die Bibel sehr vielfältige Aussagen zu den Geschlechtern macht: Zum Beispiel habe Gott in erster Linie Adam als Menschen geschaffen und nicht als Mann und daraus die Frau, wie das verkürzt in jahrhundertelangen Bibelauslegungen wiedergegeben wurde. Auch der Umgang mit den Geschlechtern habe sich im Laufe der Kirchengeschichte gewandelt (s. Interview S. 11). Der Apostel Paulus schrieb im Brief an die Galater: «Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.»


Text: Stephan Sigg
Bild: Ana Kontoulis
Veröffentlicht: 28. November 2022
«Immer wieder weiterentwickelt»
Gregor Emmenegger, Sie haben über die historische Entwicklung der kirchlichen Haltung zu Geschlechterfragen referiert. Die Kirche lehrt, es gibt Mann und Frau. Ist die Frage damit nicht schon beantwortet?
Im Gegenteil – die Haltung der Kirche hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert. Die Idee, dass Mann und Frau sich dualistisch gegenüberstehen, verbreitet sich erst ab dem 17. Jahrhundert.
Wie gingen denn die Kirche und die Theologie im frühen Christentum mit dem Thema um?
Wer von Geschlechtern redet, denkt darüber nach, was Menschen verbindet und was sie trennt. In der Antike und im Mittelalter wurden die Geschlechtsmerkmale nicht auf zwei Geschlechter hin interpretiert. Man ging davon aus, dass es nur ein Menschengeschlecht gibt, in stärkerer männlicher und schwächerer weiblicher Ausprägung, und ohne absolute Trennung dazwischen. Man reflektierte so mit medizinischem Vokabular die Gesellschaftsverhältnisse: Der Bauer unterschied sich nicht sehr von der Bäuerin, aber sehr vom Ritter. Im 17. Jahrhundert veränderte sich das. Die Frauen blieben zunehmend zu Hause, die Männer gingen auswärts arbeiten. Ein neues gesellschaftliches Modell entwickelte sich und man gewann einen neuen Blick auf die Geschlechter. Auch in der Kirche und in der Medizin wurde seither die Differenz der Geschlechter betont.
Die Gender-Diskussion wird heute oft emotional geführt. Was lehrt uns der Blick in die Kirchengeschichte?
In den vergangenen Jahrhunderten hatte die Kirche im Umgang mit diesem Thema weniger Mühe. Die Vielfalt wurde nicht als Gefahr verstanden. Es wäre eine Chance, wenn die Kirche heute die Menschen in ihrer Vielfalt sehen lernt und diese Vielfalt als Mehrwert versteht. (ssi)