Bestsellerautorin hört die Mönche flüstern

Für die deut­sche Best­sel­ler­au­torin Tanja Kinkel ist die Insel Reichen­au Schau­platz myste­riö­ser Verbre­chen und Spie­gel für die Welt­ereig­nis­se der letz­ten Jahr­hun­der­te zugleich. Für das Jubi­lä­um «1300 Jahre Klos­ter Reichen­au» hat sie ein Hörspiel geschrie­ben und eine Samm­lung von histo­ri­schen Kurz­ge­schich­ten herausgegeben.

In dicken Nebel gehüllt, einsam und verlas­sen. So traf Tanja Kinkel die Reichen­au an, als sie diese im Novem­ber 2022 zum aller­ers­ten Mal besuch­te. «Diese myste­riö­se Stim­mung hat mich total ange­spro­chen», erin­nert sich die Autorin und lacht, «ich konn­te mir so noch viel besser vorstel­len, wie das Leben im Mittel­al­ter auf dieser Insel war.» Die gebür­ti­ge Bamber­ge­rin (Bayern), die seit vielen Jahren in München lebt, wurde auf die Insel im Boden­see aufmerk­sam durch die Anfra­ge das Badi­schen Landes­mu­se­ums: «Ich bekam den Auftrag, Texte für eine App für das Jubi­lä­um zu verfas­sen. Bei meinen Recher­chen habe ich sofort gemerkt, wie viel Stoff in der Geschich­te der Reichen­au steckt. Deshalb mach­te ich dem Landes­mu­se­um den Vorschlag, zum Jubi­lä­um einen Band mit histo­ri­schen Kurz­ge­schich­ten zu veröf­fent­li­chen. In der Reichen­au steckt eine Menge Stoff. Zum Beispiel allein die Tatsa­che, dass in der späten Zeit des Klos­ters inner­halb eines Jahres gleich zwei Äbte zu Tode kamen, das schreit gera­de danach, dass sich ein Ermitt­ler darum kümmert.»

Tanja Kinkel war vor zwei Jahren zum ersten Mal auf der Insel Reichenau.

In die Geschich­te eingetaucht

Auch wenn Tanja Kinkel die Reichen­au erst seit zwei Jahren kennt, spürt man im Gespräch mit ihr sofort: Sie ist mitten­drin in der wech­sel­sei­ti­gen Geschich­te der Insel. Die Autorin spru­delt nur so, wenn sie von ehema­li­gen Äbten, Nonnen und Mönchen spricht, und wird zuwei­len sogar emotio­nal, als wäre sie ihnen persön­lich begeg­net. Sie hat sich akri­bisch in die Doku­men­te einge­le­sen und inten­siv auf die Moti­ve und Charak­te­re der prägen­den Perso­nen einge­las­sen. «Das war auch mein Köder für meine Kolle­gin­nen», sagt sie. Für die Geschich­ten­samm­lung hat sie Autorin­nen und Autoren ange­fragt, die wie sie erfolg­rei­che histo­ri­sche Roma­ne schrei­ben. «Alle beka­men von mir ein Dossier zu Perso­nen, die für die Reichen­au prägend waren.» Dass schliess­lich nur Frau­en Geschich­ten beigesteu­ert haben, sei Zufall: «Alle Kolle­gen, die ich ange­fragt habe, sagten aus Zeit­grün­den ab. Nur Ulf Schie­we woll­te mitwir­ken.» Leider erkrank­te er kurz darauf und starb. «Ich habe ihm deshalb das Buch gewidmet.»

Spie­gel der Weltereignisse

Die Geschich­ten in Tanja Kinkels Buch zeigen deut­lich: Die klei­ne Insel im Boden­see war in den vergan­ge­nen Jahr­hun­der­ten oft Schlüs­sel­ort für Welt­ereig­nis­se. In der Blüte­zeit (8. bis 11. Jahr­hun­dert) war sie das Zentrum des christ­li­chen Abend­lan­des. Zum Beispiel stamm­ten viele wich­ti­ge Schrif­ten aus der Schreib­stu­be der Klos­ter­ge­mein­schaft auf der Reichen­au. Adeli­ge und Geist­li­che lies­sen ihre Schrif­ten auf der Insel anfer­ti­gen. «Die Reichen­au ist ein Brenn­glas für die zahl­rei­chen kulturellen und sozia­len Entwick­lun­gen der dama­li­gen Zeit», so Tanja Kinkel. Als Beispiel schil­dert sie den Sturm der Konstan­zer Bürge­rin­nen und Bürger auf die Insel, als sie gegen das Klos­ter aufbegehrten.

Nur noch ein Scherbenhaufen

Tanja Kinkels Geschich­te beschäf­tigt sich mit dem Nieder­gang und nimmt den letz­ten Abt des Klos­ters Reichen­au in den Fokus. Auf der einen Seite der letz­te Reichs­abt, Markus von Knörin­gen – «einer der wider­lichs­ten Menschen, den man sich vorstel­len kann», wie Tanja Kinkel im Gespräch fest­hält, «zu seiner Zeit gibt es noch mehre­re Reform­ver­su­che, um das Klos­ter zu retten. Der Reichs­abt ist schuld, dass diese schei­tern.» Ihm gegen­über steht Prior Georg Dietz. «Mich faszi­niert an diesem Mönch, dass er seiner Beru­fung treu bleibt – das Klos­ter ist nur noch ein Scher­ben­hau­fen, vom Glanz des Mönch­tums auf der Reichen­au ist nichts mehr übrig. Er hätte die Möglich­keit, weiter­zu­zie­hen. Trotz­dem beschliesst er, auf der Insel zu blei­ben, und das, obwohl er dafür alles ande­re als Ruhm und Ehre erhält.»

Drei Kirchen besuchen

Wer die Reichen­au in diesem Jahr besu­chen will, dem steht eine App, die zum Jubi­lä­um entwi­ckelt wurde, zur Verfü­gung. Tanja Kinkel hat dafür Hörtex­te verfasst, die die Geschich­te atmo­sphä­risch dicht erleb­bar machen. Die deut­sche Autorin empfiehlt, die Reichen­au zu Fuss zu erwan­dern, zunächst am Ufer entlang und dann zum Aussichts­punkt Hoch­wart. «Es lohnt sich, die drei Kirchen zu besu­chen. Zum Jubi­lä­um wurde bei jeder Kirche ein klei­nes Muse­um einge­rich­tet. Hier kann man die Geschich­te mit allen Sinnen erle­ben.» Auf ein High­light ist Tanja Kinkel bei ihrem ersten Besuch auf der Insel in der Kirche St. Georg (Ober­zell) gestos­sen: «Ich hatte zuvor Aufnah­men der mittel­al­ter­li­chen Fres­ken gese­hen. Ich war total erstaunt, wie gut erhal­ten die sind.» Tanja Kinkel wird es auch in Zukunft wieder auf die Reichen­au und an den Boden­see ziehen, im Herbst hält sie zum Beispiel eine Lesung in Konstanz.

Bestsellerautorin hört die Mönche flüstern

Die Geschich­ten­samm­lung von Tanja Kinkel enthält u. a. Geschich­ten von Sabi­ne Ebert, Iny Lorentz und Heidi Rehn. In Kurz­ge­schich­ten erzäh­len die Best­sel­ler­au­torin­nen auf Basis wahrer Bege­ben­hei­ten von Menschen auf der Reichen­au. Sie beschrei­ben die Spuren, die Äbte und Mönche, Wein­bau­ern und Fischer, Kaise­rin­nen und Nonnen auf der Insel hinter­las­sen haben, und skiz­zie­ren so das Leben auf der Insel und im Klos­ter durch die Jahr­hun­der­te. Die Antho­lo­gie lässt damit die lange Geschich­te dieses heili­gen Ortes neu leben­dig werden. Die Geschich­ten werden wohl bei Fans von histo­ri­schen Roma­nen beson­ders gut ankom­men. Tanja Kinkel, geb. 1969 in Bamberg, lande­te mit ihren Büchern schon mehr­mals auf der Spiegel-Bestsellerliste und gilt als eine der meist­ver­kauf­ten Autorin­nen in Deutsch­land. Ihr erfolg­reichs­tes Buch «Die Puppen­spie­ler» wurde von der ARD verfilmt. Die Autorin lebt in München und ist u. a. Gast­do­zen­tin an der Univer­si­tät Zürich.

→ Tanja Kinkel (Hg): «Reichen­au – Insel der ­Geheim­nis­se», Bonifatius-Verlag, 224 Seiten

Text: Stephan Sigg

Bilder: SWR / zVG

Veröf­fent­licht: 28.06.2024

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