Die Zahl der Betroffenen von psychischen Erkrankungen nimmt zu. Trotzdem ist das Thema noch immer ein gesellschaftliches Tabu und wird stigmatisiert. Auf einem Klinikrundgang in Pfäfers erzählt Klinikseelsorger Michael Ehrhardt von seiner Arbeit und warum wir alle nicht vor einer psychischen Erkrankung gefeit sind.
Wenn Michael Ehrhardt und Pascal sich treffen, sprechen sie über Gott und die Welt, über Unternehmungen am Wochenende, über Erlebtes im Alltag. Das tun die beiden Männer regelmässig. Vergangene Woche war das Treffen schwierig, das Gespräch harzig. An diesem Morgen ist die Stimmung besser. Thema ist unter anderem der Hund von Pascals Mutter. Die Treffen mit dem Klinikseelsorger sind für Pascal ein Ankerpunkt im Alltag. Der 50-Jährige leidet seit Jahren unter einer psychischen Erkrankung. Seit rund vier Monaten ist er Patient in der Psychiatrischen Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers. Man merkt schnell: Er ist nicht gerne hier, weiss aber, dass es notwendig ist. Oft und gerne sucht er den Raum der Stille auf und liest den Psalm 91 – «unter Gottes Schutz» heisst dieser. «Der Glaube und dieser Ort sind sehr wichtig für mich. Sie geben mir Halt und die manchmal nötige Ruhe», sagt Pascal. Die Bibel liegt vor den Männern auf dem Tisch, an der Wand hängt ein Bild – das Herzstück des Raumes. Unweigerlich fällt der Blick auf das Kunstwerk. Die bunten Farben strahlen Wärme und Zuversicht aus. Nicht nur Pascal, auch der Gast fühlt sich geborgen.

Bei Nicht-Betroffenen lösen die Themen Psychiatrie oder psychische Erkrankung oft Unbehagen aus. Ein Rundgang in Pfäfers vermag dieses teilweise zu nehmen. Die neueren Gebäude und die Patientenzimmer sind lichtdurchflutet und grosszügig. Mit den Patientinnen und Patienten kommt man schnell ins Gespräch, die Abteilungen sind grösstenteils offen und die Mitarbeitenden sind aufmerksam und zuvorkommend. Michael Ehrhardt grüsst dort und winkt hier. Man kennt sich gut.
Zahlen steigen stetig
Die Klinik St. Pirminsberg ist für 150 Personen ausgelegt. Für allfällige Notfälle wird es manchmal eng. Dann helfen sich die Kliniken gegenseitig aus. Die Patientenzahlen haben in den vergangenen zehn Jahren stetig zugenommen, so Michael Ehrhardt. «Einerseits ist der Druck in der Gesellschaft gestiegen, andererseits können wir weniger gut mit diesem Druck umgehen.» Der Grossteil der Patientinnen und Patienten leidet gemäss dem 56-Jährigen unter Depressionen und den «gängigen» Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Psychosen und Ängsten.

Abhängigkeiten sind häufig Begleiterscheinungen. Oft haben die Betroffenen keinen geregelten Tagesablauf mehr oder ihnen wächst alles über den Kopf. Innehalten, zur Ruhe kommen und sich auf das Schöne im Leben fokussieren, sei dann wichtig, so Michael Ehrhardt. Er arbeitet seit rund zehn Jahren in einem 40-Prozent-Pensum in Pfäfers. Die übrigen 60 Prozent übernimmt sein reformierter Kollege. Vor Kurzem wurde eine dritte Seelsorgerin in einem 60-Prozent-Pensum angestellt. «In unserer Arbeit geht es vor allem darum, den Menschen Raum zu geben, dass sie erzählen können. Oft reicht es, einfach nur zuzuhören.»
Vom Wetter beeinflusst
Michael Ehrhardt ist für die Seelsorge auf vier Stationen zuständig. Entweder ist er bei der Morgenrunde, beim gemeinsamen Mittagessen oder am Nachmittag bei der Kaffeerunde dabei. Am Freitag feiert er jeweils einen Gottesdienst, in dem persönliche Fürbitten eine wichtige Rolle spielen. Daneben führt er Einzelgespräche. Einen fixen Tagesablauf gibt es für ihn nicht. Er ist da, wenn jemand etwas loswerden oder einfach schweigend einen Spaziergang unternehmen will. Das Angebot ist fakultativ – Ehrhardt geht nicht aktiv auf die Patientinnen und Patienten zu. Das würde auch wenig nützen. «Aufdrängen geht nicht. Manchmal beschränken wir uns auf ein ‹Hallo› auf dem Flur. Einige verlassen sogar den Raum, wenn ich komme. Das akzeptiere ich.»

Patientinnen und Patienten ohne religiösen Bezug erreicht Michael Ehrhardt kaum. «Nicht selten werde ich als Projektionsfläche für negative Erfahrungen mit der Kirche gesehen.» Auch das macht Ehrhardt nichts aus. Die Patientinnen und Patienten dürfen bei ihm «abladen». Die Klinik liegt hoch oberhalb von Bad Ragaz und bietet einen schönen Blick ins Rheintal. Die Lage im Grünen macht sich Ehrhardt gerne zunutze und geht mit den Patientinnen und Patienten nach draussen. «Die frische Luft und die Natur tut fast allen gut und beruhigt.» Allgemein: Das Wetter hat grossen Einfluss auf das Wohlbefinden und damit auf den Klinikalltag. «Wenn es tagelang grau ist, sind die Patientinnen und Patienten oft unausgeglichener und wir haben mehr zu tun.» Ehrhardt schaut aus dem Fenster. Es ist ein sonniger Tag und verschiedene Gruppen kehren gerade vom Morgenspaziergang zurück – ein wesentlicher Bestandteil des Klinikalltags. Ebenso die Ergotherapie und die Kunsttherapie. «Das sind Ausdrucksformen, die den Patientinnen und Patienten helfen sollen, zu sich zu finden und ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Sie sollen wieder lernen, sich mit etwas auseinanderzusetzen, zu reflektieren und einem geregelten Tagesablauf nachzugehen.»

Kein Zeitdruck
Die Patientenschicksale machen betroffen. Wenn Michael Ehrhardt über Menschen spricht, die den Lebensmut verloren haben, die keinen Antrieb haben, denen der Alltag fehlt, wird man traurig und nachdenklich – und ist gleichzeitig dankbar. Der Seelsorger aber wirkt gefasst. Er hat schon vieles miterlebt und hat gelernt zu akzeptieren. «Man würde sich anderes wünschen für diese Personen, aber mit Forderungen kommt man nicht weit.

Wenn jemand kleine Fortschritte macht, ist das für mich ein Highlight.» Die Erfolgschancen seien nicht immer gleich. Rund 350 Angestellte sind in der Klinik St. Pirminsberg tätig. Die Zusammenarbeit ist gut – davon werden wir an diesem Tag Ende Januar Zeuge. Beim Klinikrundgang geht eine Pflegekraft auf Ehrhardt zu. «Kannst du noch zu Frau B. gehen? Sie hat um ein Gespräch gebeten.» Ehrhardt bejaht freundlich. Er sieht sich als Ergänzung zur Behandlung. Der Frage, warum es nebst dem psychologischen Dienst in Kliniken Seelsorger braucht, entgegnet er mit einem Lächeln – ganz so, als hätte er darauf gewartet: «Einerseits sind wir die Fachpersonen, wenn es um religiöse oder spirituelle Fragen geht oder jemand ein Gebet sprechen, die Kommunion oder einen Segen empfangen möchte. Manchmal bin ich einfach Vermittler, damit Sakramente wie Beichte oder Krankensalbung gespendet werden können. Dazu werde ich dann auch speziell angefragt. Andererseits kann ich mir oft mehr Zeit nehmen für die Patientinnen und Patienten und arbeite nicht nach einem Zeitplan. Wenn immer den Betroffenen etwas auf dem Herzen liegt, bin ich da.»

Die Patientinnen und Patienten schätzen das. «Manchen ist es wichtig, dass sie ihre ganze Geschichte erzählen können, ohne Zeitdruck und Unterbrechungen.» Diese Flexibilität bringt einen weiteren Vorteil: Ehrhardt kann die Gespräche führen, wo immer es die Patientinnen und Patienten wünschen. Das Setting, wie er es nennt, müsse für jeden Einzelnen stimmen. Ehrhardt erzählt, wie er in den Gesprächen manchmal an Grenzen stosse, wie herausfordernd es zuweilen sei, das Gegenüber aus der Reserve zu locken. Dann brauche es einen Ansatzpunkt. Ehrhardt führt uns in die Klosterkirche.

Der imposante Barockbau löst Staunen aus – auch bei vielen Patientinnen und Patienten. «Ihre Neugierde wird geweckt. Sie fragen beispielsweise, wie alt die Kirche ist, und schon sind wir in einem Gespräch, das dann oft auch tiefer geht.» Nebst religiösen Themen geht es oft auch um Lebensfragen in Bezug auf die Familie, Kinder oder die Arbeit. Fragen, die uns alle dann und wann herumtreiben – auch Ehrhardt selbst. «Ich erzähle dann aus meinem Leben und wie ich die Situation handhabe.»
Noch immer Tabuthema
Die psychiatrischen Kliniken und ihre Angebote haben sich in den vergangenen 30 Jahren stark gewandelt. Während Jahrzehnten wurde die Praxis der lebenslangen Aufenthalte verfolgt. Das heisst, die Betroffenen wurden in Institutionen «abgeschoben» und fristeten ein meist einsames Dasein. Eine Interaktion mit der Bevölkerung fehlte. Seit der Klinikreform in den 1990er-Jahren steht die Reintegration in die Gesellschaft im Vordergrund. «Die Patientinnen und Patienten sollen nur so lange wie nötig bei uns sein und so schnell wie möglich wieder in ihr gewohntes Umfeld und in ihren Alltag zurückkehren», erklärt Klinikdirektorin Gordana Heuberger. Heute beträgt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Pfäfers 32 Tage.

Wie Heuberger sagt, hat die Praxisänderung zur Akzeptanz psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung beigetragen, das Thema aber nicht enttabuisiert: «Es wird immer noch stigmatisiert. Wir Menschen werden immer Schwierigkeiten haben, um Hilfe zu bitten und diese anzunehmen. Wir wollen lieber Verantwortung übernehmen. Das geht aber nicht immer.» Und Michael Ehrhardt ergänzt: «Das Feld derjenigen, die sich mit dem Thema beschäftigen, ist grösser geworden. Aber wir müssen aktiver auf die Gesellschaft zugehen und ihr zeigen, dass psychische Erkrankungen dazugehören.»
Interesse steigt
Klar ist: Auch künftig wird es psychiatrische Kliniken brauchen. Die Bevölkerung muss lernen, die Betroffenen zu integrieren und als Teil der Gesellschaft zu akzeptieren. Vor diesem Hintergrund freut es den Seelsorger besonders, dass mittlerweile auch auswärtige Gäste das Klinikcafé besuchen und kürzlich eine Schulklasse für eine Führung angefragt hat. «Das ist eine gute Möglichkeit, uns zu zeigen und Vorurteile abzubauen», sagt Michael Ehrhardt, bevor er sich verabschiedet. Er muss los, sein offenes Ohr ist gefragt. Der heutige Tagesplan ist straff. Am Nachmittag wird er die besagte Patientin auf ihrem Zimmer besuchen und sich mit Pascal noch einen Kaffee gönnen – wie oft nach erfolgreichen Gesprächen. Pascal freuts und er dankt: «Es ist gut, dass Michael da ist. Er ist ein Guter.» Dann muss auch er gehen – es ist 11.40 Uhr und das Mittagessen wartet seit zehn Minuten auf ihn.
Text: Alessia Pagani
Bilder: Ana Kontoulis
Veröffentlichung: 16. Februar 2024