Rabbiner Herrmann Schmelzer stand der Jüdischen Gemeinde in St.Gallen über 44 Jahre als geistliches Oberhaupt vor. Als engagierter Dialogpartner prägte er das Miteinander der Religionen in der Ostschweiz. Er starb am 30. November in St.Gallen.
«Ich habe Rabbiner Schmelzer als beeindruckenden Botschafter des Judentums erlebt», sagt Evelyne Graf, Theologin und langjährige Redaktorin des Pfarreiforums. Sie begegnete Rabbiner Schmelzer als Journalistin und als Theologin, in der Ethikgruppe des Kantons und als Mitglied der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft St.Gallen/Ostschweiz. «Mich hat seine tiefe religiöse und humanistische Bildung beeindruckt.» Roland Richter, ehemaliger Präsident der Jüdischen Gemeinde St.Gallen, schreibt im Nachruf im St.Galler Tagblatt: «Sein wacher Geist blieb Schmelzer bis zuletzt erhalten. Er beobachtete, überlegte, notierte auf Zetteln, die er immer auf sich trug, und kommentierte. (…) Gerne empfahl er kontroverse Bücher und freute sich auf die anschliessende Diskussion darüber.»
Interreligiöser Dialog
«Typisch für Rabbiner Schmelzer war auch seine Fröhlichkeit», sagt Evelyne Graf, «das war nichts Aufgesetztes, diese Fröhlichkeit wurzelte in einer tiefen Gottesbeziehung.» Der Interreligiöse Dialog sei ihm ein wichtiges Anliegen gewesen. Er habe intensiv die Schriften des Islams und des Christentums studiert, um ein Verständnis für die Positionen der anderen Religionen zu bekommen. «Das beschränkte sich bei ihm aber nicht nur auf die abrahamitischen Religionen, sondern er beschäftigte sich auch mit den asiatischen Religionen.»
Von Malmö nach St.Gallen
1932 in Ungarn geboren, besuchte Schmelzer die Rabbinerschule in Budapest und die Ecole Rabbinique in Paris. 1958 wurde er als Religionslehrer nach Stockholm berufen, studierte später in London. Im schwedischen Malmö erhielt Schmelzer 1962 seine Ordination als Rabbiner. 1968 wurde er schliesslich nach St.Gallen berufen. «Schmelzer hielt die kleine und bedeutende jüdische Gemeinde durch Respekt, Öffnung, Dialog und angewandtes Judentum zusammen», schreibt der Journalist Yves Kugelmann im Nachruf im jüdischen Magazin «tachles». Sein Wissen über die Religionsgeschichte und die hebräische Sprache gab er auch weiter, viele Jahre hatte er einen Lehrauftrag an der Universität St.Gallen und war Studentenseelsorger. 2012 beendete er seine Tätigkeit als Rabbiner. Schmelzer war laut «tachles» dienstältester Schweizer Rabbiner.
Einsatz für Humanität
Schmelzer war von Anfang an Mitglied der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft St. Gallen/Ostschweiz (CJA). Der Verein will mit Veranstaltungen, Informationen und Begegnungen das gegenseitige Verständnis von Christen und Juden fördern. Menschen jüdischen und christlichen Glaubens sollen sich mit gegenseitigem Verständnis und Respekt für die andere Glaubensgemeinschaft begegnen, gemeinsame Anliegen erkennen und sich vereint für Humanität, Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Der aktuelle Präsident der CJA St.Gallen, Pfarrer Andreas Schwendener, traf Rabbiner Schmelzer nach dessen Pensionierung oft bei Spaziergängen in Rotmonten. «Rabbiner Schmelzer war stets überaus zurückhaltend, sein spannendes Leben in der Öff entlichkeit publik zu machen», so Schwendener. Als er 2018 Schmelzer bei einem Spaziergang
traf, konnte er ihn zu einem spontanen Video-Interview motivieren.
Schwendener und Schmelzer sprechen im Video vor allem über theologische Themen wie die geschichtliche Wende zur Säkularisierung und die daraus resultierenden Vor- und Nachteile für die Religionen. «Am Schluss erzählte Hermann Schmelzer auch von seiner Zeit im kommunistischen Ungarn und der Ethik eines Rabbiners in schwierigen Zeiten», so Schwendener, «Schmelzer wusste, was die Neuzeit für die Religionen an Herausforderungen gebracht hat. Und er konnte sich trotzdem für das Spezifi sche einer Religion einsetzen, auch wenn darin vieles unzeitgemäss und skurril erscheint.» Batja Guggenheim, Co-Präsidentin der Jüdischen Gemeinde St.Gallen, sagte in einem Interview auf kath.ch zum Tod von Rabbiner Schmelzer: «Wir haben einen Gesprächspartner, einen Denker und Forschenden verloren. Herrmann Schmelzer war ein Fragender, ein kritischer Geist, eine herausfordernde Persönlichkeit und eine moralische Instanz.»
Stephan Sigg