Wer gerne den Wind in den Haaren spürt, fährt ohne: Sonst schützt die Fahrgäste aber ein Dach vor dem Wetter. Paul Zünd befestigt es an der Rikscha.
Mit einer Velo-Rikscha und einem Team von 28 ehrenamtlichen Pilotinnen und Piloten ermöglicht der Rorschacher Paul Zünd Hochbetagten Ausfahrten zu deren Lieblingsorten. Das Schönste daran sei, miterleben zu können, wie seine Fahrgäste aufblühen, sagt der Religionspädagoge. Seine Leidenschaft für’s Velofahren entdeckte er einst als Velokurier.

Zum Velofahren bin ich erst spät gekommen», sagt Paul Zünd, der bei der Katholischen Kirche der Region Rorschach für das Ressort Erwachsene zuständig ist. Im Schatten des Parks vor der Herz-Jesu-Kirche hat er seine Rikscha parkiert, mit der er regelmässig Seniorinnen und Senioren ausfährt. «Als 12-Jähriger habe ich zwar gearbeitet und mir von dem Geld ein Rennvelo gekauft. Danach wurde ich aber erst mal ein richtiger Töfflibueb», sagt der 51-Jährige. Zum Velofahren brachte ihn in seinen Zwanzigerjahren schliesslich ein Freund, der vorschlug, dass sie beide doch Velokuriere werden sollten. Später leitete und baute er unter anderem den Velokurier Die Fliege in St. Gallen aus. «Das Gefühl, auf dem Velo mit der Umwelt und den Menschen verbunden zu sein, fasziniert mich bis heute. Es gibt keine Glasscheibe dazwischen und ich bin in einer Geschwindigkeit unterwegs, in der ich mich auf das Geschehen um mich herum einlassen kann», sagt er.

Ausfahrt zum Hochzeitstag
Dieses Gefühl, auszufahren, den Wind in den Haaren zu spüren, unterwegs spontan Bekannten zu begegnen: Das sollen mittels der Rikscha auch die Fahrgäste von Paul Zünd erleben. Vor vier Monaten hat er daher das Rikscha-Projekt gestartet und ein Team von 28 ehrenamtlichen Pilotinnen und Piloten zusammengestellt. An diesem Vormittag trifft er das Ehepaar Elfi und Peter Künzle aus Rorschach. Die beiden sind um die 80 Jahre alt und eigentlich selbst täglich auf dem Velo unterwegs. Da die Katholische Kirche der Region Rorschach aktuell auf ihrer Homepage mit neuen Fotos verschiedene Projekte vorstellt, haben sich die beiden bereiterklärt, als Fotomodelle bei einer Tour dabei zu sein. «Ausserdem haben wir gerade unseren 57. Hochzeitstag gefeiert. Wir fanden, aus diesem Anlass könnten wir uns gut auf etwas Neues wie eine Rikscha-Fahrt einlassen», sagt Elfi Künzle. Sie fügt an, sie freue sich vor allem darauf, in der Natur zu sein und den Fahrtwind zu spüren.

Teil des Glücks sein
Elfi und Peter Künzle nehmen in der Rikscha Platz und befestigen den Anschnallgurt. Paul Zünd steigt hinter ihnen auf den Sattel und tritt in die Pedale. Maximal 15 Kilometer pro Stunde schnell wird er fahren. Ein elektrischer Motor unterstützt ihn dabei. Die Rikscha hat er über den Verein «Radeln ohne Alter Schweiz» gemietet. Elfi und Peter Künzle sind in Rorschach gut vernetzt und haben viele Bekannte. Schon nach wenigen Metern wird klar, worin der Vorteil einer solchen Ausfahrt liegt: Ein Winken hier, ein paar Zurufe dort und immer wieder wird das Ehepaar von Bekannten auf dem Velo oder im Auto überholt. «Miterleben zu können, wie meine Fahrgäste unterwegs aufblühen, und Teil ihres Glücks zu sein, ist das Schönste für mich als Pilot», sagt Paul Zünd. In den Alters- und Pflegeheimen spreche man bei dieser Art der Tagesgestaltung von Aktivierung.
Die Rückmeldungen, die Paul Zünd und sein Team von den Betreuungs- und Pflegefachpersonen erhalten, sind positiv. Den Fahrgästen sei anzumerken, wie gut ihnen die Ausfahrt getan habe. Mittlerweile machen das Seniorenzentrum La Vita in Goldach, das Altersheim Rorschach und das Haus zum Seeblick im Rorschacherberg bei dem Projekt mit. Im Durchschnitt 20 Buchungen für seine Rikscha-Ausflüge erhält Paul Zünd von diesen im Monat. Ein bis zwei Stunden dauert eine Fahrt und führt zu Lieblingsorten der jeweiligen Fahrgäste. «Eine Frau wünschte sich zum Beispiel einmal eine Tour zum Hotel Bad Horn, um dort am See etwas zu trinken», sagt Paul Zünd. Und ein Ehepaar wollte noch einmal zu jenem Haus fahren, in dem es gelebt hatte. Manchmal komme es allerdings auch vor, dass ein Fahrgast zu unruhig sei oder aus verschiedenen Gründen die Fahrt nicht geniessen könne. «In solchen Situationen kehre ich um und bringe die Person zurück», sagt er.

Eine eigene Rikscha kaufen
«Recht auf Wind im Haar», so hat Paul Zünd sein Rikscha-Projekt benannt. Erfunden habe er diese Bezeichnung aber nicht. Vielmehr sei es ein weltweit bekannter Spruch unter Rikschafahrerinnen und ‑fahrern. Seit Anfang Juli ist auch klar, wie es mit dem Projekt weitergeht. Das Pastoralteam hat sich einstimmig für den Kauf einer Rikscha ausgesprochen und möchte das Projekt nach den Sommerferien weiterführen. Nun liegt der Ball bei der Geschäftsleitung und dem Kirchenverwaltungsrat. Letzterer muss für einen Kauf einen ausserordentlichen Kredit sprechen.
Elfi und Peter Künzle kehren derweil mit Paul Zünd an den Startpunkt zurück. Sie hatten Spass und Paul Zünd verspricht ihnen beim Abschied nochmals eine richtige Tour – ganz ohne Kameras. Er selbst wird sich am Abend auf sein Velo schwingen und nach Hause fahren. Ein Auto besitzt er nicht. «Auf dem Velo unterwegs zu sein ist für mich der perfekte Ausgleich», sagt er. «Mehr brauche ich nicht.»
Text: Nina Rudnicki
Bilder: Ana Kontoulis
Veröffentlicht: 21.07.2023