Trotz Armut eine Wahl haben

Sofort und nieder­schwel­lig Armuts­be­trof­fe­ne zu unter­stüt­zen, gehö­re zu den wich­tigs­ten Aufga­ben der Cari­tas St. Gallen-Appenzell, sagt Geschäfts­lei­ter Phil­ipp Holder­eg­ger. Seit 100 Jahren hilft diese dort, wo der Staat etwas nicht macht – etwa mittels Caritas-Märkten.

Phil­ipp Holder­eg­ger, die Zahlen Armuts­be­trof­fe­ner in der Schweiz stei­gen seit Jahren. Wie zeigt sich das bei Caritas?

In den Caritas-Märkten sehen wir etwa jeden Tag neue Gesich­ter. Zuneh­mend kaufen bei uns Perso­nen ein, die vorher nicht kamen. Sie kommen, weil sie keine ande­re Wahl haben. Auch die Zahlen bele­gen, wie die Armut zunimmt. Allei­ne durch den Krieg in der Ukrai­ne und in der Folge durch die Zahl der Geflüch­te­ten verzeich­ne­ten wir  20 Prozent mehr Einkäu­fe. Durch die darauf­fol­gen­de Teue­rungs­wel­le kamen noch­mals 20 Prozent dazu. Der unters­te Mittel­stand wird zusam­men­ge­drückt, bis es nicht mehr geht und er auf Hilfe­stel­lun­gen ange­wie­sen ist.

Die Entwick­lung der Armut zeigt sich in den Caritas-­Märkten also am schnellsten?

Das ist so. In den Märk­ten ist sie sicht­bar und greif­bar. Mit eini­ger Verzö­ge­rung macht sich die Armut dann bei uns in der Schul­den­be­ra­tung bemerk­bar. Aktu­ell arbei­ten wir beispiels­wei­se viele Fälle auf, bei denen es sich um Verschul­dung als Folge der Coronapandemie handelt.

Im Rahmen des 100-Jahr-Jubiläums der Cari­tas St. Gallen-Appenzell gibt es in den drei Caritas-Märkten der Regi­on Tage der offe­nen Tür. Wie funk­tio­nie­ren die Märk­te überhaupt?

Unse­re Einkaufs­ge­nos­sen­schaft in Sempach kauft die Produk­te für uns ein, ein Teil wird subven­tio­niert. Das bedeu­tet, dass diesel­ben Produk­te, die auch die gängi­gen Gross­ver­tei­ler anbie­ten, bei uns im Schnitt 30 Prozent billi­ger sind. Zu unse­rem Sorti­ment gehö­ren Grund­nah­rungs­mit­tel wie Brot, Früch­te, Gemü­se, Fleisch- und Milch­pro­duk­te, aber auch Süssig­kei­ten, Parfüm und Spiel­sa­chen. Es ist wich­tig, dass auch armuts­be­trof­fe­ne Perso­nen eine Auswahl haben und sich auch einmal für etwas wie ein Parfüm entschei­den können. Bei vielen handelt es sich um Working Poor. Das sind Perso­nen, die trotz Arbeit zu wenig zum Leben haben. Auswäh­len zu können ist wich­tig, weil es das Selbst­wert­ge­fühl stärkt. Man ist kein Almo­sen­emp­fän­ger, der die Hand aufhält und nehmen muss, was er bekommt.

In St. Gallen und Appen­zell ist die Cari­tas ein Hilfs­werk der Katho­li­schen Kirche. Vielen ist das nicht bewusst. Wie gehen Sie damit um?

Wir sind in einer glück­li­chen Situa­ti­on. Wir werden jähr­lich vom katho­li­schen Konfes­si­ons­teil mit 1,4 Millio­nen Fran­ken unter­stützt. Das ist längst nicht in jedem Bistum in der Schweiz so. Diese Unter­stüt­zung ermög­licht es uns, dass Gelder, welche als Spen­den bei uns rein­kom­men, auch als Spen­den wieder raus­ge­hen, anstatt etwa für Lohn­kos­ten einge­setzt zu werden. Die Kirchen­steu­er wird hier auf eine äusserst sinn­vol­le Art einge­setzt: Sie hilft direkt von Armut betrof­fe­nen Menschen. Entwick­lun­gen zu sehen, wie den Image­ver­lust der Katho­li­schen Kirche und zuneh­men­de Kirchen­aus­trit­te, tut weh. Gleich­zei­tig können wir als Cari­tas nicht die Retter der Katho­li­schen Kirche sein. Die Kirche hat und hätte bei vielen gesell­schafts­re­le­van­ten Themen Wich­ti­ges beizu­tra­gen, etwa im Gesund­heits­we­sen oder zu der Art, wie heute mit den Themen Endlich­keit und Ster­ben umge­gan­gen wird. Es muss gelin­gen, diese Stär­ken zu zeigen und sich in der Öffent­lich­keit zu positionieren.

Was hat sich in 100 Jahren ­Cari­tas St. Gallen-Appenzell am stärks­ten verändert?

Im Grun­de hat sich nicht viel verän­dert. Thema der Cari­tas ist seit jeher die Armut mit all ihren Facet­ten. Im Zentrum steht dabei immer, dort anzu­set­zen, wo der Staat etwas nicht macht. Je nach Jahr­zehnt wurden beispiels­wei­se straf­fäl­li­ge katho­li­sche Männer, Menschen mit einer Beein­träch­ti­gung, Geflüch­te­te, Arbeits­lo­se oder eben Working Poor beson­ders unter­stützt. Eine wich­ti­ge Verän­de­rung waren aber schon die Caritas-Märkte, die es nun im Bistum St. Gallen seit 31 Jahren gibt. Sie sind ein nieder­schwel­li­ges Ange­bot, das sofort hilft.

Welchen Wunsch haben Sie für die Zukunft der Caritas?

Ich bin stets neidisch auf die welschen Kolle­gen. In der West­schweiz wird anders und offe­ner mit dem Thema Armut umge­gan­gen. Der Staat über­nimmt mehr Verant­wor­tung. Bei uns domi­niert auch von poli­ti­scher Seite her oft die Einstel­lung, dass jemand selber schuld ist, wenn es ihm schlecht geht. Ich würde mir einen Sinnes­wan­del wünschen. Zudem braucht es gesell­schaft­li­che Wert­schät­zung der vielen Freiwilligen.

Ohne Frei­wil­li­ge würden wohl auch die Caritas-Märkte nicht funktionieren?

Das ist so. Allein im Caritas-Markt St. Gallen enga­gie­ren sich 60 Perso­nen. Bei den meis­ten handelt es sich um Pensio­nier­te aus dem Mittel­stand, die etwas zurück­ge­ben möch­ten. Viele Frei­wil­li­ge finden sich durch Mund-zu-Mund-­Propaganda. Wie gross die Bereit­schaft in der Gesell­schaft ist, zu helfen, erle­be ich immer wieder. Als etwa während der Coro­na­pan­de­mie alle Pensio­nier­ten zu Hause blei­ben muss­ten, verschick­ten wir per Whats­App einen Aufruf. Innert kurzer Zeit waren alle Stel­len mit Studie­ren­den besetzt. Das zu sehen, moti­viert einen.

Tag der offe­nen Tür in den Caritas-Märkten St. Gallen, Wil  und Rapperswil-Jona, 8. Juni, 10 bis 16 Uhr. Tag der offe­nen Regio­nal­stel­len in Sargans, St. Gallen und Uznach, 16. August, 11 bis 18 Uhr. Jubi­lä­ums­got­tes­dienst in der Kathe­dra­le St. Gallen mit Apéro, 9. Novem­ber, 17.30 Uhr. Infos unter www.caritas-regio.ch

Text: Nina Rudnicki

Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 29. Mai 2024

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